Zwischenmenschlichkeit (Intersubjektivität) | Phänomenologie
Menschen sind soziale Wesen. Das bedeutet, es ist nicht nur relevant, dass Menschen miteinander in Kontakt treten, sondern auch die Art und Weise, wie sie kommunizieren, interagieren, Beziehungen aufbauen und einander beeinflussen. Zwischenmenschliche Verhältnisse durchziehen das ganze Leben und haben einen tiefgreifenden Einfluss auf Entwicklung, Selbstbild und Möglichkeiten.
Dieser Text ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch: Depressionen erleben
„Ein einziges isoliertes Bewusstsein wäre ohne Mitteilung, ohne Frage und Antwort, daher ohne Selbstbewusstsein (…)“
Intersubjektivität als Basis des Lebens
Die soziale Natur des Menschen
Sind die Mitmenschen konstitutiv für meine Lebenswirklichkeit, dann nehmen sie sogar eine wesentliche Rolle dabei ein, wie die Welt auf mich wirkt. Sie können dazu beitragen, dass mir meine Welt offen, freundlich und zugewandt erscheint, oder, dass sie klein, alternativlos und arm wird.
Zum Beispiel suche ich für gewöhnlich Trost bei nahestehenden Personen, wenn schlimme Dinge passieren. Allein diese Interaktion kann helfen, meine Emotionen zu regulieren, Geschehnisse neu zu bewerten, alternative Möglichkeiten zu finden oder zu erkennen u. v. m.
Andere Menschen haben wesentlichen Anteil daran, meinen Möglichkeitsraum zu formen und meinen Erfahrungshorizont zu modifizieren. Völlig egal, wie klein oder trivial dieser Einfluss im Einzelfall auch sein mag.
Die Intersubjektivität ist darüber hinaus nicht nur für die persönliche Wahrnehmung eines Individuums von Bedeutung, sondern auch für sein Verhältnis zur Umwelt.
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Das Selbst und der Andere in der Phänomenologie
Schon Husserl betonte die Wichtigkeit der Intersubjektivität für die Erfahrungswelt. Die Erlebnishorizonte eines Menschen können nicht isoliert betrachtet werden. Sie sind vielmehr in der Beziehung zu anderen Menschen zu verstehen. Diese sozialen Verhältnisse sind nicht einfach empirisch gegeben. Darum bezeichnete Husserl sie als transzendentale Intersubjektivität, eine präreflexive Bewusstseinsebene, die vor jeder subjektiven Erfahrung liegt und Erkenntnis ermöglicht.
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Konkret bedeutet das, meine Erfahrungen und Erkenntnisse werden geprägt durch Beziehungen, soziale Faktoren und kulturelle Praktiken sowie Traditionen, in die ich von Geburt an eingebettet bin. Meine Wahrnehmung der Welt ist immer schon von der Perspektive anderer Menschen beeinflusst, mein individuelles Verständnis und Erleben steht immer und ohne Ausnahme im Kontext von sozialen Strukturen und gemeinschaftlichen Interaktionen.
Mitmenschen formen meine Welt
Das ist ein Ansatz, der sozial-konstruktiven Aspekten vorausgeht. Ich erfahre die Welt nicht einfach als isoliertes Individuum, sondern immer als Teil einer Gemeinschaft und als wesentlicher Bestandteil von Beziehungen zu Menschen.
Diese vorbewusste Verbundenheit zwischen Menschen ist demnach die Grundlage von Interaktion, Verstehen und Gemeinschaft überhaupt. Auch Merleau-Ponty argumentierte, dass unsere Wahrnehmung der Welt nicht allein durch unsere eigenen Sinne bestimmt wird, sondern ebenso durch unsere sozialen Beziehungen. “In unentwirrbarer Konfusion sind wir der Welt und den Anderen beigemischt.” (Merleau Ponty)
Zur Erinnerung: Der menschliche Leib ist in der Leibphänomenologie ein Dazwischen und deshalb nicht nur für das Selbsterleben relevant, sondern auch für das Zur-Welt-Sein und die Interaktion.
Etwas anders Heidegger: Die Beziehungen zu anderen Menschen sind für ihn unverzichtbar für mein Verständnis von mir selbst und für meine Möglichkeiten, in der Welt zu handeln. Heidegger spricht von Mitsein. Damit meint er alles, was die Beziehungen zu anderen Menschen und die Bedeutung dieser Beziehungen für mein Sein in der Welt umfasst. Nicht nur meine Identität, auch mein Selbstverständnis ergibt sich aus dieser Beziehung zu anderen Menschen.
Mit welchem Philosophen man es auch halten mag, in jedem Fall ist Intersubjektivität ein wesentlicher Aspekt meiner Erfahrung als Mensch.
Leibliche und affektive Intersubjektivität
Die Frage ist, wie nehmen sich Menschen gegenseitig wahr und treten in Kontakt? Intellektuelle Analogieschlüsse sind hier disqualifiziert, da sie von einer Körper-Geist-Dichotomie ausgehen. Laut Phänomenologie sind Erlebnisse nichts, was sich versteckt im Inneren eines Menschen abspielt, sondern ein ganzheitliches Geschehen, das sich immer auch leiblich ausdrückt.
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Sehe ich einem anderen Menschen ins Gesicht, dann fixiert sich meine Aufmerksamkeit in der Regel nicht auf die Nase oder ein anderes Einzelelement. Vielmehr nehme ich das Gesicht meines Gegenübers unmittelbar als Ganzes wahr. Ich erblicke ein freundliches oder ablehnendes Gesicht, eine heitere oder ernste Mimik usw.
Wie Menschen einander begegnen, unterscheidet sich wesentlich von dem, wie leblose Objekte wahrgenommen werden.
Ein Mensch erscheint einem anderen Menschen nicht einfach als materieller Körper, der ein fremdes Bewusstsein enthält. Sie erscheinen einander als lebendige Einheit.
„Der Leib ist auch immer schon auf andere leibliche Wesen ausgerichtet, er ist von frühester Kindheit an durch Begehren und Empathie mit ihnen verbunden. Die leibliche Resonanz der Mimik, Gestik und der Affekte vermittelt die Einstimmung mit anderen und damit grundlegende Atmosphären wie Wärme, Behaglichkeit, Vertrautheit oder im negativen Fall Kälte, Spannung, Missstimmung oder Misstrauen.“ (Fuchs)
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Zwischenleiblichkeit und Zwischenmenschlichkeit
Die Zwischenmenschlichkeit bildet einen zentralen Aspekt in der Phänomenologie. Sie beschreibt das vitale, dynamische Beziehungsgeflecht zwischen Menschen wie auch jeder Art von Interaktion. Dieses Interagieren wird getragen von Verstehen und Empathie, die wiederum von emotionalen und leiblichen Resonanzen geprägt sind.
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Menschen sind auf zwischenleiblicher Ebene miteinander verbunden, sodass ein Verständnis unmittelbarer Ausdrücke möglich ist. Diese Zwischenleiblichkeit (Interkorporalität) ist integraler Bestandteil der Leib-Erfahrung und prägt soziale Interaktionen, noch bevor ich über die Person, mit der ich spreche, nachdenken oder von ihrem Verhalten auf Motive schließen kann (vgl. Leiblichkeit).
Die Zwischenleiblichkeit ist gleichzeitig ein Synchronisierungsprozess, der es Menschen erlaubt, sich aufeinander einzustimmen, wobei dieser Prozess makromotorische (Gehen, Haltung, Armheben etc.) und mikromotorische Bewegungen (Hand- und Fingeraktivität, Mimik, Stimme etc.) umfasst.
In Bezug auf emotionale Resonanzen spricht man auch von Interaffektivität
Menschen teilen Gefühle, Stimmungen, Erlebnisse, Atmosphären etc. miteinander und beeinflussen sich wechselseitig. Dabei handelt es sich um eine Synchronisierung im Sinne eines reziproken Prozesses empathischer Einflussnahme, an dem alle Beteiligten aktiv oder passiv mitwirken.
Wie sehr menschliche Interaktionen von Gefühlen und leiblichen Resonanzen getragen werden, konnte die Säuglingsforschung belegen: So ergeben sich erste leibliche Resonanzen zwischen Fötus und Mutter bereits in der Schwangerschaft und auch später verständigen sich Mutter und Baby über feinste, leibliche Regungen und Reaktionen.
Die affektive und leibliche Synchronisierung zwischen Menschen wird mit Bindungsstilen in Zusammenhang gebracht.
“Dem prozeduralen geht damit das „zwischenleibliche“ Gedächtnis voraus, das dem Säugling zunehmend erlaubt, auf der nonverbalen Ebene intuitiv mit anderen zu interagieren.
Der Kontakt mit der Mutter und seine charakteristische emotionale Tönung eröffnet dem Säugling den ersten Zugang zur Welt, der Sicherheit und Vertrauen vermitteln kann oder aber eher zu Ängstlichkeit oder Misstrauen gegenüber anderen führt.” (Broschmann, Fuchs)
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Einseitige und wechselseitige Resonanzen
Resonanz kann also einseitig sein, dann findet keine Synchronisierung statt. Um beim Beispiel mit dem Baby zu bleiben: Wenn es vor Angst oder Hunger schreit, die Mutter jedoch nicht reagiert oder nicht emotional darauf eingeht, handelt es sich um einseitige Resonanz.
Beidseitige Resonanz bezieht sich auf eine wechselseitige Interaktion, in der zwei Menschen affektiv aufeinander Bezug nehmen und sich beeinflussen. Das wäre der Fall, wenn die Mutter ihrem Baby auf leiblicher und emotionaler Ebene “antwortet”, es beruhigt, seine Bedürfnisse stillt, es streichelt und ihm liebevolle Aufmerksamkeit schenkt.
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Dabei gibt es kein Gefühl, das seinen Resonanzraum nicht in einer leiblichen Erfahrung hat. Empfinde ich Angst, dann geht dieses Gefühl so gut wie immer mit körperlicher Anspannung, einem leichten Zittern oder einem Herzklopfen einher. Manchmal auch so leicht, dass ich nur eine subtile Unruhe wahrnehme.
Bin ich traurig, dann fühlt sich mein ganzer Körper schwer und ermüdet an. Bin ich glücklich und fröhlich, spüre ich zugleich eine Leichtigkeit und einen Elan, die sich in beschwingten Bewegungen, offener Haltung und gehobener Stimme niederschlagen.
Das gilt im Hinblick auf die Zwischenmenschlichkeit auch für meine Wahrnehmung anderer Menschen: Eine Person kann für mich sympathisch sein und mich anziehen, vermittelt über ihre offene Körperhaltung und ein freundliches Lächeln, oder unausstehlich wirken und mich abstoßen, zum Beispiel weil sie in Mimik und Haltung abweisend erscheint.
Emotionale Resonanzen und Empathie
Phänomenologisch gesehen sind Gefühle und Erfahrungen also lebensweltbezogen und körperlich zugleich. Menschen, Situationen und Objekte sprechen mich auf emotionaler und leiblicher Ebene an.
Geht es um Situationen, in denen ich mich auf die Gefühle oder Gedanken einer anderen Person affektiv einstimme, also mit ihr mitempfinde oder ihre Erlebnisse nachempfinde, wird Resonanz meist im Sinne von Empathie betrachtet. Hier zeigen phänomenologische Analysen, dass Empathie und das Verständnis für die mentalen Zustände anderer Menschen nicht hauptsächlich auf einem kognitiven Akt beruhen.
Vielmehr sind es zwischenleibliche Resonanzen, die eine vorsprachliche Art von Empathie ermöglichen. Blick, Gesichtsausdruck, Tonfall und Betonung bilden eine empathische Verbindung auf präreflexiver Ebene, bevor überhaupt irgendwelche Denkprozesse greifen können.
Interaffektivität, also das wechselseitige affektive Einwirken aufeinander, erleichtert das Entstehen von gelungener Kommunikation, Mitgefühl und Verständnis. Trete ich mit einem anderen Menschen in Kontakt, dann habe ich ein basales Gespür dafür, mit welcher Reaktion unter gewöhnlichen Umständen zu rechnen ist und welche unangemessen sind, weil wir eine gemeinsame Lebenswelt teilen, mit all ihren Konventionen und Normen.
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Die Fähigkeit zu dieser Art von emotionaler Schwingungsfähigkeit erschöpft sich nicht darin, die Erlebnisse anderer Menschen mit der eigenen Erfahrung zu vergleichen und daraufhin auf Ähnlichkeiten zu schließen. Das wäre ein reflektierender Akt, der außerdem Gleichheit betont, anstatt gleichermaßen Unterschiedlichkeit anzuerkennen. Empathie ist nach phänomenologischen Ansätzen vielmehr eine einfühlende Haltung, die sich auch um die Anerkennung und Wertschätzung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bemüht.
Was Empathie genau ist, soll damit nicht hinlänglich erklärt werden. Jedoch tritt hier ein wesentlicher Aspekt hervor: Sie ist die persönliche Teilnahme an einem gemeinsamen Prozess (Partizipation).
Zusammenfassung
Intersubjektivität bezeichnet die grundlegende Fähigkeit des Menschen, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. In Anlehnung an Heidegger ist damit eine Weltoffenheit des Menschen gegenüber der Welt und anderen Menschen angesprochen, die basal zum menschlichen Wesen gehört.
Mit dem Konzept der Intersubjektivität geht die Phänomenologie über ein rein egozentriertes Erleben hinaus und betont den sozialen Kontext, in den menschliche Erfahrungen stets eingebettet sind. Meine Wahrnehmungen, Erlebnisse und Empfindungen können nicht isoliert, sondern nur in Bezug auf soziale Faktoren verstanden werden.
Eine wesentliche Rolle in zwischenmenschlichen Interaktionen spielt die Leiblichkeit. Menschen sprechen nicht nur miteinander, sie stimmen sich über leibliche Regungen, Schwingungen und Ausdrücke aufeinander ein und miteinander ab. Die Zwischenleiblichkeit beschränkt sich nicht nur auf physische Synchronisationen; sie ist gleichzeitig ein grundlegendes Element der Wahrnehmung und Kommunikation.
Nicht weniger bedeutend ist die Interaffektivität, die Fähigkeit, Gefühle und Emotionen mit anderen Menschen zu teilen, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen, mitzufühlen und Empathie aufzubauen. Diese affektiven Schwingungen, die Menschen miteinander austauschen und teilen, werden auch als emotionale Resonanzen bezeichnet.
Empathie ist das bekannteste Beispiel für präreflexive, affektive Resonanzen: Gemeint ist damit eine vorsprachliche Basis, die menschlicher Verständigung und Interaktion vorausgeht.
Dieser Text ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch: Depressionen erleben
Quellen:
1) » Jaspers: Existenzerhellung (#Affiliate-Link/Anzeige)S. 55.
2) » Merleau Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (#Affiliate-Link/Anzeige), S. 516.
3) » T. Fuchs: Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit. In: » Thomas Fuchs: Randzonen der Erfahrung. (#Affiliate-Link/Anzeige) Beiträge zur phänomenologischen Psychopathologie, S. 47.
4) D. Broschmann, T. Fuchs: Zwischenleiblichkeit in der psychodynamischen Psychotherapie, S. 459.
5) Zahavi » Bewusstsein und Welt: (#Affiliate-Link/Anzeige) Phänomenologie und Kognitionswissenschaften