Intuition – Oder: Die Sache mit dem Bauchgefühl

Wie treffen Sie Entscheidungen? Mit dem Kopf, reflektiert, rational? Oder emotional, „aus dem Bauch heraus“? Mal abgesehen davon, dass es für uns Menschen kein emotionsloses Denken gibt – alles ist immer biographisch, sozial und kulturell mitbestimmt – und auch unser Gefühlsleben bisweilen rational ist (es ist zum Beispiel vernünftig, sich vor Gefahren zu fürchten), wird man vielleicht sagen: Kommt ganz drauf an. Manchmal so, manchmal anders.

Was man weiß: Das Bauchgefühl führt mindestens so oft zur richtigen Entscheidung wie das vernünftige Abwägen von Gründen, die rationale Analyse. Was man ferner weiß: Das Bauchgefühl kann auch Erkenntnis bringen und Wissen schaffen. Es ist als Methode durchaus anerkannt, etwa in der Mathematik und der Philosophie. Man nennt es dort Intuition. Hört sich besser an, meint aber dasselbe.

Vor dem Hintergrund des Intuitionskonzepts ist der Unterschied zwischen Glauben und Denken auf eine eigentümliche Weise überwunden. Wer behauptet, dass er etwas intuitiv für wahr hält, ist sich im Klaren darüber, dieses Wissen nicht beweisen zu können, zugleich aber ist sie oder er sich sicher, dass es dabei um Inhalte geht, die nicht der subjektiven Sphäre des persönlichen Glaubens vorbehalten sein sollten, sondern um Dinge, von denen auch andere „etwas haben“.

 

Intuition in der Mathematik

Wenn es um die nicht mehr hintergehbaren Gründe der Wissenschaft geht, gelten mathematische Axiome und Definitionen häufig als Paradebeispiel eines vernünftigen Ausgangs menschlichen Denkens.

Doch seitdem die von Zermelo und Russell um 1900 entdeckte Antinomie in Cantors Mengendefinition gezeigt hat, dass dem Anschein nach vernünftige Festlegungen zu Widersprüchen führen können, ist unter Mathematikern ein Grundlagenstreit ausgebrochen. Das Problem waren Mengen, die sich selbst als Element enthalten. So etwas führt zum Widerspruch.

Beispiel: Ein Barbier hängt eine Werbetafel ins Schaufenster: „Ich rasiere alle, die sich nicht selbst rasieren!“ Klingt harmlos, bringt aber in der Person des Barbiers einen Widerspruch mit sich. Denn: Wenn er sich rasiert, dann rasiert er sich selbst und gehört nicht zur Zielgruppe.

Wenn er aber zu dieser Zielgruppe der „Sich-nicht-selbst-Rasierenden“ gehört, dann müsste er – seinem Werbespruch folgend – das Rasiermesser an sich anlegen. Damit träte dann aber wieder der erste Fall ein. Ein Dilemma, aus dem er nur einen Ausweg gibt, wenn sich der Barbier von der Regel des Werbeslogans ausnimmt. In der Praxis von Barbieren kein Problem, in der Mathematik schon, denn da muss man eine Menge dem Problem entsprechend angepasst definieren und somit die Gestalt von Mengen einschränken.

Das macht man nicht gerne, weil man möglichst allgemeine Aussagen treffen möchte. Eine echte Krise, gefolgt von einem handfesten Gelehrtenstreit, in den sich zahlreiche Philosophen (neben Russell etwa Wittgenstein, Carnap und andere Vertreter des Wiener Kreises) eingebracht haben, um das bröckelnde Fundament der Mathematik zu ertüchtigen. Eine daraus entstandene Denkrichtung ist der Intuitionismus.

Der Intuitionismus wurde von Brouwer (1907: „Over de Grondslagen der Wiskunde“), Weyl (1925: „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik“) und Heyting (1931: „Die intuitionistische Grundlegung der Mathematik“) begründet. Als Vorläufer gelten v. a. Poincaré und Kronecker, der bereits in den 1870er Jahren Ideen vertrat, die denen von Brouwer sehr nahekommen.

Als Halbintuitionalisten bezeichnet man zudem die Vertreter der Pariser Schule der Funktionentheorie: Baire, Lebesgue und Borel. Der Intuitionismus verwirft in revolutionärem Duktus fast alles, was in den klassischen Theorien (Logizismus, Formalismus) zentral ist und setzt dem formal-logischen Aufbau der Mathematik ein Konzept der „rein geistigen Konstruktionen“ entgegen (R. Carnap: Grundlagen der Logik und Mathematik. Darmstadt 1973, S. 69). Mathematik wird betrieben als „natürliche Funktion des Intellekts, als freie lebendige Aktivität des Denkens“ (Heyting zit. nach M. Kober: Gewissheit als Norm.

Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in „Über Gewissheit“. Berlin/New York 1993, S. 272). Das bedeutet nicht, dass nun alles „geht“, was man sich gerade eben noch vorstellen kann und was sich irgendwie richtig „anfühlt“, es bedeutet nur, dass der logischen Form Grenzen gesetzt sind, die sich nur intuitiv überwinden lassen.

Setzen wir auf die Formallogik allein, müssten wir redlicherweise aufgeben, bei unserer Suche nach dem sicheren Grund. Ein Algorithmus etwa würde bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Barbier-Dilemma in einer Endlosschleife landen – und irgendwann den PC zum Absturz bringen. Doch unser Geist versorgt uns nicht nur mit Formeln, sondern auch mit Phantasie, mit Intuition, und verhilft uns so zu einer Grundlegung wissenschaftlicher Tätigkeit, die zwar nicht vollkommen ist, wohl aber hinreichend überzeugt.

 

Intuition in der Philosophie

Zur Zeit des meta-mathematischen Grundlagenstreits – also im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – wird der Begriff der Intuition auch in einer ganz anderen philosophischen Richtung populär: in der christlichen Existenzphilosophie. In „Auferstehung der Metaphysik“ (1920) beschäftigt sich Peter Wust mit dem Begriff der Intuition und verdeutlicht seine Bedeutung an der – seiner Meinung nach missbräuchlichen – Verwendung des Intuitionskonzepts zur Differenzierung zwischen Wissenschaft und Philosophie bei Henri Bergson.

Bergson ist ein Vertreter der christlichen Existenzphilosophie, dessen Denksystem sich nach Wust durch drei Dinge auszeichnet: Ein Anti-Intellekualismus, eine Fokussierung auf das Leben als Gegenstand der Spekulation und die Trennung von Philosophie und Wissenschaft, „indem er die Intuition als das wahre Organon der Philosophie hinstellt“ (P. Wust: Auferstehung der Metaphysik. Münster 1963, S. 177). Dabei übersehe Bergson, so Wust, dass Wissenschaft ohne Intuition nicht möglich sei, „ohne jene schöpferische Zeugungskraft, ohne jene intuitive Synthesis, die das Atomisierte durch einen Blitzstrahl des Geistes in eine Totalität verschmilzt“ (ebd., S. 182).

Dies gilt bei Wust für induktives (synthetisches) und deduktives (analytisches) Fortschreiten in der wissenschaftlichen Forschung, denn die Synthese sei „jenem allgemeinen Seinsgesetz der Systase, der Rückkehr aller Besonderung in die Einheit, eng verwandt; hier berühren sich das Subjektive und das Objektive, wie auch umgekehrt die Besonderung aus der Einheit sowohl in der subjektiven als auch in der objektiven Sphäre ein einziges Weltgesetz ist, so daß man sogar sagen könnte, daß auch die Analyse, der in der objektiven Sphäre die unendliche wunderbare Selbstzerspaltung und Selbstdifferenzierung des Seins zugeordnet ist, ohne einen intuitiven Akt nicht erfolgen kann“ (ebd., S. 182 f.)

Wust argumentiert ganz in Begriffen platonisch-augustinischer Metaphysik. Er sieht die Erkenntnisse der Wissenschaft ontologisch vorgeprägt, eine metaphysische Basis der Forschung, die uns Wissenschaft eher als Tätigkeit des Auffindens von Bestehendem denn des Erfindens von Neuem begreifen lässt. Wust gibt das „Objektive“ nicht preis, wie es im Gefolge von Kants Subjektivismus der Philosophie angeraten schien, und spricht geradezu mutig vom „Sein“, nicht bloß von der Erscheinung dessen, was ist (des „Dinges an sich“). Die Bezugsgrößen sind bereits vorhanden, sie müssen nicht konstruiert werden. Diese Voraussetzungen anzuerkennen und auf dieser Grundlage zu forschen, verlangt nach Wust eine Vorstellung des „großen Ganzen“, die nur intuitiv zu erlangen ist.

Damit, so Wust, falle nicht nur die Wissenschaft nicht aus dem methodischen Rahmen der Intuition, sondern eben auch die Philosophie nicht aus dem Rahmen der wissenschaftlichen Methodik. Der von Bergson vorgenommene Schnitt sei unbegründet, obgleich der Philosophie ein besonders großer Anteil Intuition eigne. Sie ist bei Wust gewissermaßen nicht nur die alte Königin der Wissenschaften, sondern damit eben zugleich die höchste Steigerungsform intuitiven Denkens (soweit dieses gerade noch den Anspruch erhebt, intersubjektiv Gültiges und Verhandelbares mitzuteilen, also im Ergebnis nicht bloß höchstpersönliche Poesie oder Phantasie vorzustellen, die – in Bezug auf die Wahrheit – gleichwohl eine unersetzliche Bedeutung hat, nur eben nicht systematisierbar ist wie wissenschaftliche oder philosophische Erkenntnis, soweit und solange sie eben nicht in selbige überführt wird oder konsistent in selbiger aufgeht).

Die Philosophie als „höchste Steigerung jener Intuition“ betätigt sich nach Wust „nicht bloß im Bereich der Theorie, sondern auf jedem anderen Gebiete kultureller Formungen“ (ebd., S. 183). Auch das ist sicher kein prinzipielles Unterscheidungskriterium, da auch Wissenschaft über kurz (Anwendungsforschung und technische Entwicklung) oder lang (Grundlagenforschung) Teil unserer Kultur wird, und unsere Lebensweise formt – man denke an Entwicklungen im medialen Bereich (Internet, Mobiltelefon). Nur meint Wust, dass Philosophie von vorneherein so angelegt sein muss, dass sie kulturdurchdringend und -formend wirkt, weil sie den schaffenden Geist zum Gegenstand hat, während bei der Wissenschaft die Orientierung in Richtung der faktischen Naturgegebenheiten geht, die es zunächst zur Kenntnis zu nehmen und möglichst exakt zu beschreiben gilt, ehe dann eine Formung von Lebensbedingungen – und damit von Kultur – stattfinden kann.

Der Analyse der Natur (Wissenschaft) stellt Wust – die Intuition als Methode im Hinterkopf – die Synthese des Geistes (Philosophie) entgegen. In der für seine Metaphysik typischen plastischen Sprache, die von ebenso kraftvollen wie kryptischen Allegorien lebt, zeigt er das Potential der Intuition: „Überall nämlich, wo eine Formung des Seins einsetzt, verläßt der Geist den Weg der verstandesmäßigen Zerstückelung und sendet den Blitz geistiger Zeugung in die toten Glieder einer auseinandergerissenen Stofflichkeit.

Der Lebensschwung, die Schaffenslust und Werdelust, entrafft die Materie ihrer Diskontinuität und stiftet einen lebendigen Bezug zwischen den zersplitterten Teilen. Man kann deshalb sagen, dass der Begriff einer toten Materie überhaupt ein rein abstraktes Gebilde ist, dem in der Wirklichkeit keine reale Bedeutung zukommen kann, weil weder Kraft an sich noch Stoff an sich in reiner Isoliertheit angetroffen werden können. Überall sind beide wie durch ein mysteriöses Band aneinandergeknüpft, sodaß das Sein nie in einer starren Ruhe und Unfruchtbarkeit daliegen kann, weil alles Sein diesen ewigen Bezug hat“ (ebd., S. 183) Soweit Peter Wust.

 

Zurück in den Alltag

In der Praxis gewöhnlicher Lebensvollzüge, die in der Regel vor dem Hintergrund eines viel weiteren Wahrheitskonzepts als des mathematischen oder philosophischen stattfinden, kann Intuition als eine Art „Gefühl für das Wahre“ angesehen werden. Eine starke Intuition als jenes Gefühl für das Wahre, für das „Richtigliegen“ liefert Harry Frankfurt zufolge die Liebe (H. G. Frankfurt: Sich selbst ernst nehmen. Frankfurt a. M. 2007). Wer aus Liebe handelt, liegt also nicht falsch. Sagt mir meine Intuition, mein Bauchgefühl.

Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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