Störung oder Leiden?

Was Sprache enthüllt #4

 

Wer krank ist, stört!

Heute setze ich meine Reihe Was Sprache enthüllt fort.

Indem wir bestimmte Ausdrücke verwenden, bringen wir nicht nur unsere Meinungen in die Welt, sondern wir erzeugen auch Fakten. Die von uns geschaffenen Fakten haben Effekte, und zwar unabhängig davon, ob wir diese überhaupt wahrnehmen, ob wir sie gutheißen und verantworten können.

 

Aus Erkenntnissen werden Tat-Sachen!

Die durch unser Sprechen, Erkennen und Handeln hervorgebrachten Fakten bezeichne ich als Tat-Sachen, ein Terminus aus meiner Erkenntnistheorie. Ebenso wenig wie das Wort Faktum streng genommen ein unumstößlich wahres Ereignis benennt, sondern vielmehr etwas Gemachtes, soll auch der Terminus Tat-Sache darauf verweisen, dass aus unserem Erkennen sogleich reale Dinge und Sachen werden, die in die Welt hineinwirken. Dabei ist es oft unentscheidbar, ob die von uns als real erachteten Facts nicht letztlich nur Fakes sind. Aus dem Tat-Sachen-Begriff folgen ethische Maximen, u.a. die Maxime der Behutsamkeit. Mehr dazu findest du auf meiner Seite Orientierungen – Philosophie.

(Foto: MM)

 

Bist du eine Störung?

In diesem Beitrag untersuche ich eine äußerst folgenreiche Wortwahl, der wir in Psychotherapie und Psychiatrie fast überall begegnen: dem Begriff der krankheitswertigen Störung. Ich werde dafür plädieren, dieses Wort für psychische Krankheiten nicht mehr zu verwenden. Wir sollten es durch den Terminus Leiden ersetzen; denn:

Das Wort Störung transportiert Tiefenbedeutungen, die dem hilfesuchenden Menschen Schuld, Wertlosigkeit, Fehlerhaftigkeit und Verantwortungslosigkeit zuschreiben.

Fragen wir uns einmal, aus welchen Gründen und Anlässen wir medizinische oder therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Welche Art von Beschreibungen wählen wir, um unsere Behandlungsbedürftigkeit darzustellen?

Wie drücken wir uns also aus, wenn wir dem Therapeuten oder der Ärztin schildern, wie schlecht es uns geht? Formulieren wir es folgendermaßen?

Ich bin gestört.
Ich habe eine Störung.
Oder sogar:
Ich bin eine Last, ein Problem, eine Störung.

Oder leidest du?

Verwenden wir nicht eher Ausdrücke wie die folgenden?

Mir geht’s schlecht.
Ich habe Schmerzen.
Ich kann nicht mehr.
Ich habe Todesangst.
Mir fehlt alle Lebensenergie.

Sofern wir nicht schon zu sehr die gesellschaftlichen Bewertungen verinnerlicht haben, beschreiben wir doch eher, auf welche Weise wir uns schlecht fühlen und woran wir leiden.

 

Exkurs:

2 Seiten des Leidens

Bei genauerem Hinsehen scheinen zwei 2 Aspekte des Leidens auf. Die eine Seite des Leidens beschreibt die negative Befindlichkeit als solche, die andere Seite nimmt die Beeinträchtigung des sozialen Zugehörigkeits-Gefühls in den Blick.
Die erste Seite der Leidens-Münze nenne ich das Leiden-an-sich, die zweite das Leiden-am-Du.

(a) Das Leiden-an-sich

… bezeichnet die oftmals quälenden Symptome als solche wie zB Angst, Panik, Traurigkeit, belastende Zwänge, psychosomatische Beschwerden. Du sagst dann:

Meine Hand tut weh.
Ich bin verzweifelt.
Ich habe unerträgliche Panikattacken.
Ich fühle mich einsam.
Ich vermisse den Verstorbenen.
Jedes Mal, wenn ich rausgehen will, muss ich 2 Stunden lang Herd, Fenster, Türen und Licht kontrollieren. Das macht mich fertig!
Ich habe Angst vor Krankheit und Tod!
Ich habe meinen Lebens-Sinn verloren. …

(b) Das Leiden-am-Du

steht dafür, dass sich deine Beziehungen zu Familie, Freundinnen, Kolleginnen, Bekannten, Nachbarn radikal verändern:

Du fühlst dich unnormal, minderwertig und sozial ausgeschlossen.
Dein Leiden ist dir peinlich.
Du empfindest es als Schande.
Du versuchst es zu verstecken.
Du erlebst dich als Last für andere.
Vielleicht ziehst du dich sogar völlig aus deinem sozialen Umfeld zurück.

All das findet nicht nur in deinem Kopf statt. Vielmehr generieren beide, der Kranke wie auch seine Mitmenschen, realen sozialen Abstand. Denn auch die Anderen reagieren, sobald sie deines Problems gewahr werden, mit Distanzierung. Sie sagen zB:

Du musst endlich …!
Du darfst nicht immer …!
Du solltest endlich mal …!
Warum erfreust du dich nicht an dem schönen Wetter und machst was Schönes?!

Oft schwingt dabei mit:

Du bist nicht normal!
Du bist selbst schuld!
Lass mich in Ruhe!

Da sich diese Art von Ent-Gegnungen wiederholen, bildet sich eine soziale Norm heraus, etwa:

Alle Menschen mit diesem Leiden sind nicht okay.

Schlimmer noch:

Sie sind psychisch abnorm.

Diese Normbildungen produzieren Abwertungen, durch die der Abstand des leidenden Menschen zur Gemeinschaft immer größer wird: Dieser leidet jetzt nicht nur an dem Verlust der aktuellen sozialen Beziehungen, sondern darüber hinaus an dem Schwinden seiner Hoffnung auf zukünftige nährende Begegnungen. Die Trennungslinie zwischen kranker Person und Umwelt verschärft sich zum sozialen Ausschluss.

Diese beiden Seiten des Leidens sind meist gemeinsam gegeben. Man kann sie nicht so einfach voneinander trennen. Ich vermute, dass sich das Leiden-am-Du umso stärker ausbildet, je länger es andauert, je komplexer und je weniger greifbar es ist und je erfolgloser die bisherigen Behandlungsversuche gewesen sind.

 

Was das Herkunfts-Wörterbuch sagt

Wie gewohnt werfen wir einige Blicke in das etymologische Wörterbuch des Dudens, um die ursprünglichen Bedeutungen der Termini Leiden und Störung aufzuspüren. Wir erhoffen uns dadurch Aufschluss über Tiefenbedeutungen, die bei Verwendung dieser Begriffe wirksam sein könnten.

Leiden

Die Herkunft des Wortes Leiden

Leiden im heutigen Sinne von dulden, ertragen, Schmerz, Kummer empfinden bedeutete ursprünglich gehen, fahren, reisen. Dieses Bild des Unterwegs-Seins geht vermutlich zurück auf die christliche Vorstellung vom Leben des Menschen als Reise durchs irdische Jammertal. [1]

(Foto: MM)

 

Störung

Viele Krankheiten, besonders psychische Erkrankungen, werden heute aber als Störung bezeichnet: Funktionsstörung der Schilddrüse, Persönlichkeitsstörung, depressive Störung, Angststörung, Anpassungsstörung, traumatische Belastungsstörung etc.

Betrachten wir, was der Duden über die Tiefenbedeutungen des Wortes Störung schreibt:

 

Die Herkunft des Wortes Störung

Störung/ stören meint ursprünglich verwirren, zerstreuen und sogar vernichten. Diese deutschen Wörter sind mit dem englischen to stir = aufrühren verwandt. Vermutlich gehört ebenfalls das Wort Sturm mit seinen Ableitungen zu der Wortgruppe stören und enthält die Konnotationen Unruhe, Tumult. Die Vorgänge des inneren Aufruhrs sind zentrale Themen der Strömungen des Sturm und Drang. Weitere Bildungen zu dem Ursprungswort Störung sind: verstört, zerstören, Störenfried (X stört den Frieden.). [2]

(Bild: Canva)

 

Was stört, muss weg!

Das Wort Störung enthält demnach zwei Aspekte:

  • Eine Störung ist eine Gefahr für den öffentlichen Frieden. Sie birgt das Risiko von Aufruhr und Zerstörung. Die Störung muss demnach beendet und der Störenfried unschädlich gemacht werden!

  • Die Störung ist Ausdruck innerer Verwirrung, Zerstreuung, Verstörung oder gar eines Tumults, einer inneren Vernichtung. Der Gestörte muss vor sich selbst beschützt werden.

Wer also zB eine mittelgradige depressive Störung oder eine Borderline-Störung hat, stört oder gefährdet aus dieser Sicht …

  • den ökonomischen Frieden, weil die Versicherung für ihn bezahlen muss und dieser keinen Mehrwert erwirtschaftet,

  • den Arbeitsfrieden, weil eine andere Person jetzt dessen Job mitübernehmen muss,

  • den Behandlungsfrieden, sofern er nicht genau das tut, was seine Behandler von ihm verlangen, und

  • den sozialen Frieden, weil er anders und nicht normal ist und sich merkwürdig benimmt.

 

Fazit: Leiden-an-sich und Leiden-am-Du

Der bedenkenlos verwendete Begriff Störung legt Beibedeutungen nahe, durch welche die Patientin sich auf Distanz gehalten, beschuldigt, verantwortlich gemacht oder abgewertet fühlen kann.

Natürlich sollten wir Fachleuten, die diese Termini in den Mund nehmen, nicht unterstellen, dass sie dies bewusst und absichtlich zum Ausdruck bringen wollen.

Aber gerade weil Hilfesuchende meist alles andere als stabil und selbstbewusst sein dürften, sollten wir einkalkulieren, dass sie die Konnotationen des Begriffes Störung feinfühlig wahrnehmen und automatisch negativ auf sich selbst beziehen.

Jedes Mal wenn wir mit einem Patienten über seine psychische Erkrankung reden, sollten wir den Ausdruck Störung vermeiden und lieber von seinem Leiden sprechen.

Von vornherein ist mitzubedenken, dass neben dem eigentlichen Leiden-an-sich, also seinem Schmerz, seiner Angst, Trauer oder Leere, stets auch das das Leiden-am-Du mitgegeben sein dürfte, nämlich sein Ausgeschlossen- und Anders-Sein, sein Nicht-dazu-Gehören, seine Scham- und Schuldgefühle.

 

Mehr über meine Kritik am heute üblichen Störungs-Begriff findest du hier.

Mehr über das Leiden-an-sich und das Leiden-am-Du findest du hier.

 

So long für heute. Tschüss und bis dann!

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[1] Duden – Das Herkunftswörterbuch, Bd. 7., 1963, S. 397

[2] Duden – Das Herkunftswörterbuch, Bd. 7., 1963, S. 683, 692

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