Der Weg des Humanismus – Zur Genese der Menschenrechtsidee
Gegen einen Aufklärung und Menschenrechte allein für sich reklamierenden säkularistischen Humanismus zeigt die Beschäftigung mit den Ideen des historischen Humanismus der Renaissance deutlich dessen christliche Grundierung. Alles andere wäre auch verwunderlich, eingedenk der Geschichte Europas im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.
So ist denn auch die Ideengeschichte der Menschenrechte nicht allein vom „Kampf gegen die Kirche“ geprägt, sondern vor allem eng verwoben mit christlichen Einsichten zum Wesen des Menschen, seiner Würde, seinem Lebenswillen, seinem Freiheitsdrang.
Der Humanismus, wie er einem heute in organisierter Form oder als Selbstbeschreibung loser Gruppen oder Einzelpersonen entgegentritt, etwa in Diskussionen im Internet, zeigt sich weitgehend unaufgeklärt hinsichtlich dieser langfristigen Perspektive einer sich unmittelbar aus der christlichen Anthropologie herausschälenden Ideengeschichte der Menschenwürde und der Menschenrechte.
Christlicher Humanismus:
Der Mensch im Mittelpunkt, Gott über allem
Gehen wir in die Geschichte. Was passiert ideenhistorisch im Renaissance-Humanismus? Kurzum: Der Einzelne wird wichtig, das Individuum entsteht, aber nicht gegen das Christentum, sondern aus dem christlichen Begriff der Würde heraus, schöpfungstheologisch begründet – als langfristige und daher besonders tragfähige Basis der Menschenrechte, die den Gedanken der Freiheit religiös gründet, stabil konzipiert und nachhaltig tradiert.
Eine solche Perspektive erklärt die Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der Menschenrechte weit überzeugender als das Narrativ eines Ablösungskampfs der säkularen Gesellschaft gegenüber dem Christentum.
Der Mensch steht im Mittelpunkt.
Das Individuum ist konstitutiv für die Menschenrechtsidee. Kernkonzepte dieser Idee (wie Freiheit, Gewissen, Würde, Personalität, Subjektivität, Autonomie) sind nur individualistisch denkbar.
Das bedeutet: Mit der Entdeckung des Individuums, seines Gewissens und seiner personalen Würde beginnt zugleich die Geschichte der Menschenrechte: im christlichen Renaissance-Humanismus, auch wenn ihre Kodifikation später folgte, nach einschneidenden sozialen Verwerfungen und blutigen Revolutionen. Diese fußen ihrerseits im Anliegen auf dem humanistischen Menschenbild, dem Individuum.
Das Individuum konstituiert sich eingedenk der schöpfungstheologischen Perspektive also nicht in völliger Autonomie als selbstbestimmtes Subjekt, sondern bleibt dem Objekt in einer heteronom gestalteten Beziehung zugewandt.
Dieser Bezug, der Jahrtausende lang in Judentum, Christentum und Islam unhintergehbar war, wird in der Neuzeit als Hemmnis empfunden und in der Aufklärung im 18. Jahrhundert hinsichtlich seiner Bedeutung für die ethische und rechtliche Orientierung des Individuums zunehmend kritisiert. In dieser Spannung stehen auch die Menschenrechte und der Streit um ihre Genese – und damit auch ihrer Geltung (das ist der weit relevantere Aspekt).
Die Spannung lässt sich auflösen:
Es gibt zwei Quellen der Menschenrechtsidee. Zum einen das christliche Denken von der Gleichrangigkeit der abbildlichen Geschöpfe Gottes und der Heiligkeit der menschlichen Person mit ihrer unendlich wertvollen Einzelseele.
Zum anderen das mit dem Renaissance-Humanismus aufkommende neuzeitliche Denken vom Individuum als Träger unveräußerlicher Bedürfnisse, die in eine Rechtsform zu überführen sind, damit sie im Zweifel auch gegen die Gemeinschaft (also: gegen den Staat) wirksam werden können. Geklammert wird Ebenbildlichkeit und Einzigartigkeit vom Konzept der personalen Würde des Menschen. Der Mensch ist insoweit „heilige Person“.
Dass es gerade auf diese Sakralität ankommt, wenn wir uns über die Genese und das Wesen der Menschenrechte verständigen wollen, hat Hans Joas gezeigt (Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011).
Joas hebt die Bedeutung des Konzepts von der „heiligen Person“ für die Menschenrechtsgenese hervor. Gott – der die Heiligkeit des Menschen stiftet und verbürgt – steht damit über allem.
Hans Joas: Die „Sakralität der Person“
Joas meint, die Idee der Menschenrechte damit auf eine neue Basis stellen zu können. Die bisherigen Grundlegungsversuche seien unzureichend, die Debatten um die Genese der Menschenrechte „unfruchtbar“.
In der Tat sind es ermüdende Grabenkämpfe zwischen Vertretern einer religiösen Genese (aus dem christlichen Menschenbild) und Vertretern einer säkularen Genese (aus dem Geist der Aufklärung).
Joas stellt klar: Eine erschöpfende Genealogie der Menschenrechte lässt sich in eindeutiger Manier weder mit einem christlichen, noch mit einem säkularen Humanismus in Verbindung bringen.
Je nach Horizont der Betrachtung gewinnt das langfristige Moment der ideellen Befreiung des Menschen durch die christliche Anthropologie oder das kurzfristige Moment der faktischen Befreiung des Menschen durch die Aufklärung an Bedeutung; nur in der Zusammenschau erkennt man das „geteilte Dritte“: die Heiligkeit.
Denn: Beide Positionen konvergieren im Begriff der „Sakralität der Person“, die für Joas eine „fundamentale Alternative“ zu der „Gemengelage von Narrativen“ darstellt. Nach Joas sind die Menschenrechte demnach weniger Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses der Gesellschaft als vielmehr eines „Sakralisierungsprozesses des menschlichen Wesens“. Damit ist die Spur gelegt von Leonardo da Vinci zu uns.
Der Terminus Sakralisierung darf nicht so aufgefasst werden, als habe er ausschließlich eine religiöse Bedeutung. Auch „säkulare Gehalte“ können, so Joas, „Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität“; in diesem Sinne ist die Geschichte der Menschenrechte „eine Geschichte der Sakralisierung der Person“.
Obgleich die Idee der personalen Heiligkeit ursprünglich eine schöpfungstheologische ist, soll die Sakralität des Menschen also nicht rein religiös verstanden werden. Sie ist vielmehr die Begründungsfigur des neuzeitlichen Individualitätsdiskurses, der sich aus ganz unterschiedlichen Vorstellungen speist.
Christliche und liberalistische Argumente überführen, v. a. im Zuge der Aufklärung, gleichermaßen die schwache Stellung des Einzelnen im übermächtigen Kollektiv des absolutistischen Staates in einen Rechtszustand, der die Sphäre des Individuums markiert und zur Abwehr von staatlichen Eingriffen in diese Sphäre befähigt.
Also: Wem gehört die Moderne?
Es zeigt sich, dass es in dieser Frage ein Entweder-Oder, wie es heute oft kolportiert wird, nicht gibt. Fest steht indes: Das Christentum ist für die Moderne unverzichtbar.
Basis für den modernen demokratischen Verfassungsstaat ist zunächst das christliche Menschenbild. Die christliche Philosophie verleiht dem Menschen – und das ist neu – eine unveräußerliche dignitas humana, die direkt aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen erwächst.
Oder, um es mit dem großen Robert Schuman zu sagen: „Die Demokratie verdankt Ihre Entstehung und Entwicklung dem Christentum: sie wurde geboren, als der Mensch berufen wurde, die Würde der Person in individueller Freiheit, den Respekt vor dem Recht des anderen und die Nächstenliebe gegenüber seinen Mitmenschen zu verwirklichen.“
Fazit: Mit Leonardo da Vinci und dem großen Aufbruch des Renaissance-Menschen lässt sich vieles begründen – Individualität, Selbstbestimmung, Freiheit (auch gegen die Kirche) –, aber kein zwangsläufig säkularistischer Humanismus.