Soziale Umwelt (Exposom) & Gesundheit – arm in der Kindheit, krank im Alter
Wer in der Kindheit wenig hat, zahlt im Alter oft doppelt drauf: Die Summe negativer Sozialeinflüsse prägt die Gehirngesundheit ein Leben lang. Armut ist dabei nicht einfach nur ein Mangel an Geld. Sie ist ein Mix aus Entbehrungen, Dauerstress und verpassten Chancen, der sich tief ins Gehirn eingräbt und bis ins hohe Alter nachwirkt. Eine neue Studie bringt dafür einen wichtigen Begriff ins Spiel: das soziale Exposom.
Was steckt hinter dem sozialen Exposom?
In der Studie ist von einem multidimensionalen sozialen Exposom die Rede: Es beschreibt alle sozialen Einflüsse und Belastungen, denen ein Mensch von Geburt an bis ins Alter ausgesetzt ist. Und zwar nicht nur die offensichtlichsten wie Einkommen oder Bildungsjahre, sondern das volle Spektrum von Umweltfaktoren, die psychologisch und biologisch wirksam werden. Darunter: Bildung, Ernährungsunsicherheit, finanzielle Lage, Zugang zur Gesundheitsversorgung, Kindheitserfahrungen und mehr.
Hierzu gehören Mikro-Faktoren, wie die Qualität der Kita, die Anzahl der Bücher im Haushalt oder die Beziehungsqualität, genauso wie Meso-Faktoren, z. B. Nachbarschaftsstruktur oder Arbeitsplatzsicherheit. Die soziale Klasse und die Herkunft sind dabei die zentralen Komponenten: Sie bestimmen maßgeblich, wie viele Chancen und wie viele Stolpersteine im „Rucksack“ des sozialen Exposoms landen.
Makro-Faktoren für Gesundheit erläutere ich in diesem Beitrag » Depression: gesellschaftliche Ursachen & Faktoren
Details zur Studie
Wer wurde untersucht? – 2.211 Personen (inkl. Kontrollgruppen) aus 6 lateinamerikanischen Ländern
Warum Lateinamerika? – Weil hier das soziale Exposom besonders deutlich das Leben der Menschen beeinträchtigt. Viele Menschen und sogar ganze Regionen sind hier in mehrfacher Hinsicht unterversorgt. Strukturelle Ungleichheit, Bildungsunterschiede und soziale Determinanten der Gesundheit wirken sich daher ganz klar auf die Gesundheit der Lateinamerikaner aus.
Ergebnis: Je ungünstiger das soziale Exposom eines Individuums, desto schwerwiegender sind die kognitiven, funktionellen, mentalen Beeinträchtigungen im Laufe des Lebens und im Alter.
Zum Hintergrund:
Wie entstehen sozialen Ungleichheiten?
Armut in der Kindheit ist oft das Ergebnis komplexer gesellschaftlicher Strukturen » Teufelskreis der Armut. Die soziale Klasse wird durch Einkommen, den Bildungsstand und Beruf der Eltern bestimmt.
Wer in einem Umfeld aufwächst, in dem Ressourcen knapp sind, erlebt Deprivation auf mehreren Ebenen: Materielle Einschränkungen (z. B. Nährstoffdefizite aufgrund minderwertiger Lebensmittel oder prekäre Wohnverhältnisse) gehen Hand in Hand mit psychosozialen Belastungen (wie Unsicherheit, Angst, Scham usw.)
Das ist kein Zufall oder individuelles Pech! Viele Studien zeigen, dass Armut und soziale Benachteiligung über Generationen weitergegeben werden. Kinder, die in prekären Verhältnissen aufwachsen, haben nicht nur statistisch gesehen schlechtere Chancen, später ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu führen.
Vielmehr manifestieren sich soziale Ungerechtigkeiten früh in ihrer Lebenswirklichkeit und prägen ihre psychische Gesundheit, ihr Selbstwertgefühl und ihre Zukunftschancen nachhaltig. Vgl. Armut & Depression: Die gesundheitliche Ungleichheit
Faktoren des sozialen Exposoms
Die Summe sozialer Umwelteinflüsse
Bildung: Nicht nur die Anzahl der Jahre zählt, sondern die Qualität. Wer aus einer benachteiligten sozialen Klasse stammt, hat oft schlechtere Lernbedingungen, weniger individuelle Förderung und geringere Chancen auf weiterführende Bildung. Vgl. Bildung schützt nicht vor Armut
Ökonomie: Finanzielle Unsicherheit, Mietbelastung, fehlende Rücklagen – all das sind typische Begleiter prekärer sozialer Herkunft. Sie sorgen für Dauerstress und schränken die gesellschaftliche Teilhabe massiv ein.
Gesundheitssystem: Wer in einer benachteiligten Gegend lebt oder kaum Rücklagen hat, wartet länger auf Arzttermine und erhält seltener Zugang zu qualitativer und präventiver Versorgung.
Soziales Umfeld: Isolation, instabile Beziehungen, soziale Konflikte und Diskriminierungserfahrungen sind für Kinder in Armut typischer Alltag.
Kindheit & Jugend: Formen der Vernachlässigung, körperliche oder psychische Gewalt, Ausgrenzung, Verluste – diese Belastungen treten in sozial benachteiligten Familien deutlich häufiger auf und prägen die Heranwachsenden.
Arbeit und Alltag: Unsichere Jobs, Schichtarbeit, schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Niedriglöhne – all das erhöht den Stresslevel und reduziert die gesundheitlichen Ressourcen.
Vgl. Ursachen von Armut – Wie entsteht Armut? Warum gibt es Armut?
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Wie wirkt sich Stress auf das Gehirn aus?
Chronischer Stress ist eine Gefahr für die Gehirnentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Wenn Heranwachsende ständig unter Druck stehen, schüttet der Körper vermehrt Stresshormone wie Cortisol aus. Dieses Hormon hemmt die Entwicklung von Hirnregionen wie dem Hippocampus (wichtig für Gedächtnis und Lernen). Auch der präfrontale Kortex (Planung und Selbstkontrolle) leidet unter Dauerstress.
Die Folgen zeigen sich oft erst Jahre später: Kinder, die früh und häufig gestresst sind, haben es schwerer, sich zu konzentrieren, Entscheidungen zu treffen und mit schwierigen Situationen umzugehen. Mehr dazu » Was Armut mit Kindern macht
Lebenslauf-Perspektive
Von der Herkunft bis ins Alter
Das soziale Exposom denkt nicht in Einzelaspekten, sondern in Lebensläufen. Besonders kritisch sind die ersten Lebensjahre: In dieser Zeit ist das Gehirn extrem formbar. Kinder aus benachteiligten Verhältnissen erleben oft weniger Zuwendung, weniger Sprachförderung, schlechtere Ernährung und mehr Unsicherheit. Das bremst den Aufbau wichtiger neuronaler Netzwerke – und diese Defizite lassen sich später nur schwer ausgleichen. Vgl. Kindheit prägt das Leben (Eltern-Bindung & spätere Gesundheit)
Auch Übergangsphasen wie Pubertät oder Berufseinstieg sind sensible Zeitfenster, in denen sich die soziale Herkunft besonders stark auswirkt. Vgl. Sozialer Aufstieg durch Bildung – Die Opfer des “Erfolgs”
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Ein Mädchen wächst in einem sozial benachteiligten Viertel auf (1. Faktor). Bereits die geografische und soziale Umgebung prägt frühzeitig ihre Lebensumstände: Armut, eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsversorgung und Freizeitangeboten sowie ein Umfeld, das oft mit hoher Kriminalitätsrate und sozialer Unsicherheit verbunden ist.
In dieser Umgebung ist die Schule überfüllt, schlechter ausgestattet und die Qualität der Bildung leidet erheblich (2. Faktor). Dabei sammelt das Kind über die Jahre viele Diskriminierungserfahrungen, z.B. in der Arztpraxis aufgrund ihres sozialen Status oder anderer Merkmale (3. Faktor). Diese wiederholten negativen sozialen Erfahrungen wirken als chronischer Stressor und unterminieren nicht nur ihr Selbstwertgefühl, sondern auch ihre psychische Stabilität.
Die geringeren Resilienz- und Bildungsressourcen aufgrund der benachteiligten Herkunft vermindern ihre Chancen auf eine qualifizierte Ausbildung oder einen guten Job erheblich (4. Faktor). Der Mangel an Vorbildern, Förderunterricht oder sozialen Netzwerken, führt zur Perspektivlosigkeit.
Ohne stabile Erwerbsarbeit gerät sie als junge Erwachsene in finanzielle Schwierigkeiten (5. Faktor). Der daraus resultierende ökonomische Druck erzeugt weiteren Stress und psychische Belastungen.
Diese psychische Belastung beeinträchtigt wiederum ihre Arbeitsfähigkeit (6. Faktor). Und wirkt sich negativ auf ihre sozialen Beziehungen aus (7. Faktor), ebenso wie zu wenig Geld.
Dadurch wird der Zugang zu unterstützenden Netzwerken weiter erschwert – und es entsteht ein multifaktorielles Zusammenspiel, das die Problemlagen verstärkt: Alle Faktoren greifen ineinander und verhindern, dass die betroffene Person aus eigener Kraft ihre Lebenssituation verbessern kann.
Der Ketteneffekt – Wenn ein Problem das nächste jagt
Einzelne Belastungen wirken nicht isoliert und einmalig, sondern verursachen eine Kaskade von weiteren Problemen, die in vielfacher Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Ein extrem vereinfachtes Beispiel:
Jemand verliert seinen Job und hat keine Rücklagen.
Arbeitsplatzverlust führt nicht nur zu Geldsorgen, sondern auch zu einem erhöhten Stresslevel.
Dauerhafter Stress löst z. B. häufig Schlafstörungen aus, gleichzeitig können nur noch günstige Lebensmittel konsumiert werden.
Der Körper wird durch die vielen Belastungen schwächer und die Konzentration schlechter, was wiederum den Alltag erschwert. Und natürlich auch die Jobsuche.
Die Einschränkungen im Alltag befeuern soziale Isolation, weil die Person sich Fahrkosten oder viele Freizeitaktivitäten nicht mehr leisten kann.
Negative Einflüsse summieren sich
Im Kontext von Benachteiligung und Armut ist es selten ein einzelnes großes Ereignis, das Kindern (oder Erwachsenen) schadet. Vielmehr ist es der schwierige Alltag: Viele gehen hungrig in die Schule, bekommen zu wenig Schlaf, werden nicht rechtzeitig beim Arzt behandelt, bekommen zu wenig Förderung, haben keinen ruhigen Platz zum Lernen, erfahren keine Ausflüge oder Abwechslung, sind deutlich mehr Stress im Alltag ausgesetzt …
Die Anzahl, Häufigkeit und Dauer dieser Belastungen machen den Unterschied – je länger und schwerer die Bürde, desto mehr leiden Körper und Psyche. Vgl. Gute Erziehung hilft nicht gegen Benachteiligung
Studien zeigen:
Herkunft prägt Gesundheit im Alter
Je ungünstiger das soziale Exposom, desto schlechter die Gehirngesundheit – und das gilt besonders für Kinder aus armen und sozial benachteiligten Familien. Die Folgen sind messbar:
Schwächere kognitive Leistungen (Denken, Merken, Planen),
Mehr psychische Probleme,
Geringere Belastbarkeit/Leistungsfähigkeit, (vgl. auch nach Depression nicht mehr belastbar)
Veränderungen in der Gehirnstruktur und -funktion, vor allem in Bereichen für Sprache, Planung und soziales Verhalten.
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Was bedeutet das fürs Altern?
Lebenslange Belastungen, die mit sozialer Herkunft und Klasse zusammenhängen, schwächen die Reserven des Gehirns und machen es anfälliger für Krankheiten wie Demenz.
Wer in der Kindheit wenig hatte, hat im Alter oft weniger kognitive und funktionelle Ressourcen – und das lässt sich biologisch nachweisen.
Demenzprävention beginnt in der Kita
Gute Bildung, volle Teller und sichere Beziehungen sind die beste Investition in die Gehirngesundheit. Doch diese Art von Prävention muss bereits in der frühen Kindheit starten – und das nicht bei irgendwelchen Kindern, sondern gezielt bei denjenigen, die aus benachteiligten sozioökonomischen Lebenswelten stammen und diese Förderung brauchen.
Typische Mythen vs. die Fakten
Evtl. interessant für dich » Wie viel Armut ist normal?
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Bildung ist wichtig, aber ohne Gesundheit und Sicherheit verpufft ihr Effekt sang- und klanglos: Es braucht ein Fundament aus Nahrung, Gesundheit und Sicherheit, um das Potenzial, welches Bildung mit sich bringt, überhaupt nutzen zu können. Vgl. Bildungsexpansion ist keine Lösung
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Warum? Und seit wann? Wenn öffentliche Institutionen bestimmte Barrieren senken, sinkt der allgemeine Stress in der Gesellschaft – und alle profitieren. Vgl. Klassismus in Deutschland: Der Kampf gegen Arme statt die Armut
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Teurer wird es, wenn wir nichts tun. Maßnahmen, die soziale Benachteiligung ausgleichen, sind günstiger als die Folgekosten von Armut und Krankheit.
Fazit: Soziale Umwelt prägt Gehirn
Das Konzept des „sozialen Exposoms“ macht noch einmal deutlich, wie wichtig die Rahmenbedingungen in der Kindheit und im Erwachsenenleben sind. Nicht die einzelne Belastung, sondern das Gesamtpaket aus sozialer Herkunft, strukturellen Barrieren und Alltagsproblemen (bzw. sozialen Problemen) beeinflusst die Gehirngesundheit maßgeblich. Vgl. auch: Gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland steigt
Wer in der Kindheit arm war, trägt auch später einen schwereren Rucksack – und der lastet bis ins Alter auf der Gesundheit. Wer dagegen früh gefördert und unterstützt wurde, profitiert ein Leben lang von diesen positiven Umwelteinflüssen.
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Quellen:
1) Christian Hilscher: Das soziale Exposom und die Gehirngesundheit
2) Migeot, J., Pina-Escudero, S.D., Hernandez, H. et al. Social exposome and brain health outcomes of dementia across Latin America. Nat Commun 16, 8196 (2025). https://doi.org/10.1038/s41467-025-63277-6
3) Stephan Letzel: Soziale Umwelt: Was macht krank? (Konrad-Adenauer-Stiftung) In: Volkskrankheiten. Gesundheitliche Herausforderungen in der Wohlstandsgesellschaft, Herder Verlag 2000
4) Finkel et al: Different stressors across the life course have different paths to impact cognitive and physical aging, Advances in Life Course Research Volume 63, March 2025, 100661, https://doi.org/10.1016/j.alcr.2025.100661




