Migration als Menschenrecht

Ein Beitrag zum 77. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Es ist viel von „Steuerung“ die Rede, manchmal auch von „Begrenzung“. Migration erscheint im Diskurs in erster Linie als ein Problem, dem man sich abwehrend stellen muss, als Staat. Andererseits „brauchen“ Staaten mit zu geringer Geburtenrate – also auch „wir“ – Migranten, um unseren Lebensstandard zu halten.

Abseits dieser Diskurse könnte man auch mal ganz anders an die Sache herantreten. Wie wäre es, wenn man alle Grenzen öffnete? Was passierte, gäbe es ein Recht auf Einwanderung? Kämen dann 300 Millionen Menschen nach Deutschland? Oder „ganz Afrika“? Wäre das das Ende der Welt? Nein, wahrscheinlich nicht. Schauen wir hin.

Migration als Menschenrecht

Was wäre, wenn alle Grenzen fielen?

Migration ist ein aktuelles, aber kein neues Phänomen. Die überragende Rolle der Migration lässt sich anhand einiger weniger Beispiele rasch aufzeigen. Die so genannte „Völkerwanderung“ im 4.-6. Jahrhundert n. Chr. führte germanische Stämme von Ost- nach Mittel- und Westeuropa.

Eine weitere Migrationswelle setzte mit der „Entdeckung“ Amerikas 1492 ein: Spanische und portugiesische Eroberer – Missionare, Glücksritter und Abenteurer – machten den Anfang, die Sklaventransporte durch Engländer und Spanier im 16.-19. Jahrhundert von Afrika nach Amerika sowie die Kolonisierung Nordamerikas durch Europäer im 19. und frühen 20. Jahrhundert folgten.

Erinnert sei auch an nationalistisch bedingte Migration in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa und im Nahen Osten, die Folge von „ethnischen Säuberungen“, teilweise mit genozialer Intention, gewesen ist.

Ich denke an

  • die Vertreibung der Armenier in der Türkei (1908-25),

  • an die der Juden im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten (1935-45),

  • aber auch an die der Deutschen im russischen Machtbereich (1944-48)

  • und schließlich an die der Palästinenser nach der Gründung Israels (1948).

Heute ist Migration ein weltweites Massenphänomen, das sich unter den Bedingungen der Globalisierung ständig verschärft. Etwa 300 Millionen Menschen leben dort, wo sie nicht geboren wurden. Rund 120 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht.

Migration wird sich in Zukunft, so die einschlägigen Prognosen, weiter beschleunigen.

Zu der erzwungenen Abwanderung (Flucht) aus dem Grunde, dass elementare Menschenrechte in der Herkunftsregion nicht (mehr) gewährleistet werden, tritt die Arbeitsmigration.

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Die Welt bleibt in Bewegung.

Dabei gibt es – die historischen Beispiele und die aktuellen Zahlen zeigen es – freiwillige und unfreiwillige Migration. Freiwillig ist die Migration dann, wenn man auch in seinem Heimatland bleiben könnte, aber eine Option im Ausland wahrnehmen will. Unfreiwillig ist die Migration dann, wenn ein menschenwürdiges Leben in der Heimat nicht mehr möglich ist.

Dabei ist nicht entscheidend, warum das der Fall ist. Ob Krieg, Gewalt, existenzbedrohende Armut, politische oder religiöse Verfolgung Ursache ist, ist unerheblich.

Und ob die existenzbedrohende Armut aufgrund von Misswirtschaft oder Ernteausfall und ob der Ernteausfall aufgrund von Klimawandel oder „einfach so“ auftritt, spielt keine Rolle.

Die Differenzierung der unfreiwilligen Migranten in „Klassen“ ist einfach nur zynisch, so, als ob die Gefahr zu verhungern weniger zur Flucht berechtigte als die Gefahr der Verfolgung oder des Krieges.

Das heißt umgekehrt: Wenn wir nicht wollen, dass Menschen zu uns kommen, dann müssen wir helfen, die unterschiedlichen Fluchtursachen zu beheben – soweit das möglich ist.

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Schauen wir auf die Rechtslage.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die am 10. Dezember 77 Jahre alt wird, sieht ein Auswanderungsrecht vor, aber kein Einwanderungs- und kein Niederlassungsrecht.

In Art. 13, 1 wird Freizügigkeit nur innerstaatlich proklamiert, in Art. 13, 2 auf Auswanderung und Rückkehr ins eigene Land beschränkt; von einem Einwanderungsrecht in ein Drittland eigener Wahl ist nicht die Rede. Dabei wurde genau das schon mal als proto-völkerrechtliche Idee angedacht – im 16. Jahrhundert, als es für die Spanier darum ging, nach der „Entdeckung“ Amerikas nun die Besiedlung des Kontinents zu begründen.

Das Land war ja nicht unbewohnt. Es hatte eine Bevölkerung, einen Staat, eine Regierung, eine Kultur, eine Religion. Dann kamen die Spanier.

Mit welchem Recht? Dem der militärischen Übermacht?

Das reichte nicht mehr aus, in der Begründungsdebatte jener Zeit.

Francisco de Vitoria, um das epochale Entdeckungsjahr 1492 im kastilischen Burgos geboren, entwarf die Vision einer einig existierenden Menschheit (totus orbis), die in ihrer Verschiedenheit hinsichtlich Rasse, Kultur und Religion als universale Weltgemeinschaft, als res publica aller Nationen, allein das abstrakte Völkerrecht zur konstitutionellen Basis erheben darf und nicht etwa tradierte und rein theologisch begründete Überlegenheitsansprüche einer Minderheit.

Kultureller Pluralismus, der den Anderen zur Toleranz nötigt, ist bei Vitoria an universalistische Prinzipien gebunden, die eine frühe Form von Menschenrechten darstellen. Mit dem Begriff des totus orbis entstehen so symmetrische Beziehungen, die durch das Völkerrecht im Geiste der Toleranz geregelt werden.

Vitoria entwickelt in diesem Geist ein Konzept des Menschenrechts auf Freizügigkeit und Migration mit den Komponenten Einwanderungs-, Niederlassungs- und Einbürgerungsrecht. Er geht dabei von dem naturrechtlichen Vernunftpostulat „communia sunt omnium“ aus, also von der unbestreitbaren Tatsache, dass zunächst alle Dinge allen gemeinsam waren, es jedem erlaubt gewesen sei, überall hinzugehen und sich überall niederzulassen.

Vitoria schließt daraus, dass seitdem das ganze Menschengeschlecht eine Art universale Staatenrepublik bilde. Aus dieser Annahme, theologisch gestützt durch den Verweis auf das christliche Grundgebot der Nächstenliebe, entsteht ein Migrationsrecht, dessen Prinzip es ist, dass „jedermann die von ihm angestrebten Regionen aufsuchen und dort so lange verweilen darf, wie es ihm beliebt“ (Vitoria). Es dürfe „kein Volk anderen Völkern die Einwanderung verweigern“ (Vitoria).

Das meint er freilich zunächst mit Blick auf die Spanier, die sich in Lateinamerika niedergelassen hatten. Doch prinzipiell gilt dies auch für die Indios, die nach Spanien einwandern möchten. Er entwirft damit ein Migrationsrecht, das globale Freizügigkeit gewährt, und schlägt dazu eine Einbürgerungsregelung nach dem ius soli-Prinzip vor.

Vitoria behauptet ferner, dass „kein Volk anderen Völkern den freien Handel verbieten und von der Benutzung der Meere, Häfen und Flüsse als Gemeingut des ganzen Menschengeschlechts ausschließen dürfe“.

Er gesteht in seinem ius commercii den Spaniern Umgang mit und Beteiligung an gemeinschaftlich nutzbaren Dingen der Indios zu, wenn diese gleichfalls anderen Völkern offen stünden. Ausdrücklich bezieht er hierbei die Nutzung kollektiver Naturschätze ein, die ohne Besitzer laut Völkerrecht ihrem Finder gehörten.

Vitoria koppelt sein liberales Migrationsrecht also mit einem nicht minder liberalen Handelsrecht, das er aus einem allgemeinen Nutzungsrecht entwickelt.

Vitorias Plädoyer für freie Migration, freie Nutzung der Ressourcen und freien Handel schließt die Überlegung mit ein, dass dies alles nicht zum Nachteil einer beteiligten Partei geschehen darf. So gelten die genannten Grundsätze nur, solange der Migrant das Gastrecht nicht missbrauche, d. h. solange er in der Region seiner Wahl „keinen Schaden anrichtet und kein Unrecht begeht“ (Vitoria).

Analog endet der Freihandel und die Exploration der Naturschätze dort, wo die Einheimischen diese berechtigterweise nicht dulden, d. h. dort, wo das Nutzungsrecht an einer Sache durch Aneignung derselben kein allgemeines mehr ist, wo es also mit anderen Worten bereits einen Eigentümer gibt.

Wenn das Berücksichtigung findet, wenn also Migranten das Recht der neuen Heimat kennen und akzeptieren, dann könnte sich der vitorianische Gedanke des freien Austauschs von Menschen und Gütern auch heute bereichernd auswirken.

Bei den Gütern haben wir es geschafft, doch auch für die Menschen sollte Freizügigkeit möglich sein. Selbst wenn alle Grenzen fallen, wird es dabei nicht zur „Katastrophe“ kommen.

Der Anteil der Migranten würde sich von derzeit 3,4 auf rund 6 Prozent nahezu verdoppeln, meint der Migrationsforscher Franck Düvell (Oxford/Berlin). Umfragen zeigten, dass etwa zehn Prozent der Menschen grundsätzlich mit dem Gedanken spielen, das eigene Land zu verlassen. Nicht einmal ein Prozent habe dafür aber konkrete Pläne. Ein globales Chaos entstünde mit offenen Grenzen wohl nicht.

Im Gegenteil, meint Philipp Jacobs: Die Migration würde geordneter ablaufen und es würden sich nicht nur (wie heute, unter gefährlichen Bedingungen) hauptsächlich junge Männer auf den Weg machen. Ganze Familien könnten gemeinsam auswandern, auch alleinstehende Frauen.

Das wirke sich auf die Kriminalität der Migranten aus, die in ihrer Eigenschaft als jung und männlich eher zu Gewalt und Verbrechen neigen – nicht in ihrer Eigenschaft, Migranten zu sein. Ein höherer Frauenanteil unter den Migranten wirkte sich hingegen „gewaltpräventiv“ aus.

Zudem sei mit einer Belebung der Wirtschaft zu rechnen: „Migration bedeutet fast immer einen wirtschaftlichen Aufschwung für die Region, in die migriert wird“ (Düvell). Auch die Herkunftsländer profitieren vom einsetzenden Geldtransfer.

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Und für alle, die sich in einer solch „grenzenlosen“ Welt Sorgen um Deutschland machen: Nur sechs Prozent der laut erwähnter Umfrage migrationswilligen Menschen hat Deutschland als Ziel angegeben.

Die meisten wollen in die USA. Wir in Deutschland „müssten“ also mit nur vier Millionen Einwanderern in den nächsten Jahren rechnen, wenn die Grenzen offen wären. Das sind etwa so viele, wie in den letzten zehn Jahren nach Deutschland immigriert sind.

Allerdings würden dann auch weiterhin Menschen aus Deutschland auswandern. Das waren in den letzten zehn Jahren immerhin drei Millionen, was dazu beitrug, dass die Einwohnerzahl in Deutschland während der letzten zehn Jahre lediglich um rund eine Million stieg, von 82,5 (2015) auf 83,5 (2025) Millionen.

Bliebe die Zahl der Auswanderer auf diesem Niveau, lebten per Saldo nach der Migrationswelle, die durch die Grenzöffnung bedingt wäre, noch einmal rund eine Million Menschen mehr in Deutschland, also rund 84,5 Millionen, ein Zuwachs von rund 1,2 Prozent.

Zusammenbrechen würde „das System“ deswegen nicht. Und allzu eng werden dürfte es dann mit 237 Einwohnern pro Quadratkilometer auch nicht – in Belgien sind es 383, in den Niederlanden sogar 432 Einwohner pro Quadratkilometer; beide Länder gehören – wie auch Deutschland – zu den Top Ten des Index der menschlichen Entwicklung.

Also: Auch vor einer Welt mit offenen Grenzen müsste man keine Angst haben. Sie ginge nicht unter.


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Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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