Viele sind nach Depressionen nicht mehr belastbar » Studien

Viele Menschen, die eine depressive Episode durchlebt haben, glauben, mit dem Abklingen der akuten Symptome sei der Kampf gewonnen. Doch die Realität sieht oft anders aus: Selbst nach überstandener Depression fühlen sich viele nicht mehr belastbar und erleben Restbeschwerden: dazu zählt auch eine verminderte Leistungsfähigkeit.

Viele sind nach der Depression nicht mehr belastbar

Was von der Depression bleibt

Residualsymptome sind leichte, aber hartnäckige Beschwerden, die auch nach einer erfolgreichen Behandlung einer Depression bestehen bleiben. Dazu zählen etwa:

Diese Symptome liegen oft unterhalb der klinischen Diagnosegrenze, sind aber für Betroffene alles andere als „leicht“. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich und erhöhen das Risiko für Rückfälle (3). Studien zeigen, dass bis zu 90 % der Menschen mit Depressionen Residualsymptome aufweisen, selbst wenn sie als „remittiert“ gelten (2).

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Stabile Remission? Nicht so einfach!

Nach der Depression weniger belastbar

Remission bedeutet: Die depressiven Symptome sind fast oder ganz weg – das ist das Ziel jeder Behandlung (1). In der Realität geht diese Theorie jedoch nicht auf. Die Studienlage zum Thema ist umfassend und bestätigt, dass viele Menschen auch nach dem Abklingen der akuten depressiven Symptome (Remission) noch unter langanhaltenden funktionellen Beeinträchtigungen leiden, die ihre Belastbarkeit im Alltag und Beruf einschränken. Im Fachjargon wird dies als restliche (residuale) funktionelle Beeinträchtigung oder psychosoziale Funktionsstörung bezeichnet.

Vgl. auch Folgen der Depression (psychosozial, beruflich)

 

1. Anhaltende Funktionsstörungen

Diskrepanz zwischen Symptomen und Funktion: Zahlreiche Studien zeigen, dass eine Besserung der depressiven Symptome nicht automatisch zu einer vollständigen Wiederherstellung der ursprünglichen Leistungs- und Funktionsfähigkeit führt.

Das Ziel einer Behandlung, die sogenannte funktionelle Wiederherstellung (functional recovery), wird oft nicht erreicht.

Vgl. Seelische Krankheit – Seelisches Leiden in der Philosophie

2. Betroffene Funktionsbereiche

  • Berufliche und schulische Leistung: Häufig kommt es zu Schwierigkeiten, die Arbeitsleistung auf einem akzeptablen Niveau zu halten

  • Soziale und familiäre Interaktion: Es treten Probleme bei der Pflege von Beziehungen, der Teilnahme am sozialen Leben und der Bewältigung von familiären Pflichten/Hausarbeiten auf.

  • Tägliche Aktivitäten: Schwierigkeiten bei der Durchführung von Alltagsaktivitäten.

  • Freizeitaktivitäten: Eine Einschränkung des Aktivitätsniveaus im Freizeitbereich.

 

Wie lange dauert die Erholung von einer Depression?

Die Dauer einer Depression ist individuell, kann aber unbehandelt durchschnittlich sechs bis acht Monate betragen und durch eine effektive Therapie auf etwa 16 Wochen verkürzt werden. Depressionen sind in den meisten Fällen heilbar, doch die genaue Dauer der Genesung hängt vom Schweregrad, dem Behandlungsbeginn und der individuellen Reaktion auf die Therapie ab. Nach der Akuttherapie ist eine Erhaltungs- oder Langzeitbehandlung sinnvoll.

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Brain Fog ist ein häufiges Phänomen nach Depressionen

Brain Fog ist ein häufiges Phänomen

Reduzierte Belastbarkeit ist kein Zeichen von Faulheit oder fehlendem Willen. Sie ist das Ergebnis komplexer Veränderungen und des Verlusts von Bezügen zur Welt in der Depression. Ein häufiges Phänomen ist der sogenannte „Brain Fog“ (eine Art mentaler Blockade mit Konzentrations- und Gedächtnisproblemen). Und selbst nach der Remission bleibt etwa die Hälfte davon betroffen (3).

 

Belastbarkeit ist mehr als nur psychische Kraft

Die Belastbarkeit nach einer Depression umfasst weit mehr als nur das Fehlen depressiver Symptome. Es geht um die Fähigkeit, den Anforderungen des Berufslebens, Soziallebens und des Alltags gerecht zu werden. Residualsymptome wirken hier wie unsichtbare Bremsklötze.

Sie führen dazu, dass Betroffene schneller erschöpfen, sich überfordert fühlen und Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren oder Entscheidungen zu treffen. Diese Einschränkungen wirken sich oft auf alle Lebensbereiche aus:

  • Beruf: verminderte Produktivität, evtl. mehr Fehlzeiten, Reizempfindlichkeit.

  • Sozialleben: Rückzugsbedarf, Missverständnisse / Stigmatisierung usw.

  • Alltag: erschwerte Bewältigung von Routineaufgaben.

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Warum ist man nach Depressionen weniger belastbar?

Warum bleiben Residualsymptome bestehen?

Warum ist man nach Depressionen weniger belastbar?

  • Unvollständige Heilung: Die Depression hat sich zwar gebessert, ist aber nicht vollständig überwunden.

  • Biologische Veränderungen: Langfristige neurobiologische Veränderungen im Gehirn oder Körper.

  • Nebenwirkungen von Medikamenten: Manche Residualsymptome können durch Medikamente verursacht oder verstärkt werden.

  • Psychosoziale Belastungen: Stress und ungünstige Lebensbedingungen erschweren die Genesung extrem.

Vgl. Depression & gestörtes Zeitgefühl & Die Verfremdung der Lebenswelt

 

Wie lange dauert die Erholung nach einer Depression?

Ich zitiere eine interessante Aussage von Chefarzt Dr.med. Benedikt Habermeyer (6): "Vor allem im stationären Bereich habe ich erlebt, dass die Patienten zwar angegeben haben, es ginge ihnen besser.

Die Frage, ob sie sich wieder wie früher fühlen, haben sie aber verneint. Das ist eine der Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Patienten: in der Klinik funktionieren bedeutet noch nicht, im Alltag und noch lange nicht bei der Arbeit zu funktionieren. Die Heilung von Depressionen braucht Zeit. Bis man wieder auf dem alten Stand ist, dauert es oft sechs bis zwölf Monate. Es ist daher ratsam, auch bei gutem Ansprechen auf die antidepressive Therapie den Langzeitverlauf zu beobachten."

In einem Interview mit Carola Kleinschmidt in der Zeit (7) ist wiederum in der Infobox zu lesen: “(…) Nicht selten kommt es zu Rückfällen. Und klar ist auch: Die alte Belastbarkeit wird häufig nicht wieder erreicht (…)”

Evtl. interessant für dich: Vom Symptom zur Diagnose – Checkliste Depression

 

Fazit: Wird man nach Depressionen wieder normal?

Laut offiziellen Schätzungen hat die Krankheit gute Heilungschancen. Tatsächlich kommt es aber auf die Ursachen und die Schwere deiner Depression sowie deine persönlichen Erfahrungen und direkten Lebensumstände an, wie gut deine Chancen stehen. » Vgl. auch: Gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland steigt + Armut & Depression

» Beatrice Frasl: Patriarchale Belastungsstörung. (#Affiliate-Link/Anzeige), Geschlecht, Klasse und Psyche


Quellen:

1) McKnight PE, Kashdan TB. The importance of functional impairment to mental health outcomes: a case for reassessing our goals in depression treatment research. Clin Psychol Rev. 2009 Apr;29(3):243-59. doi: 10.1016/j.cpr.2009.01.005. Epub 2009 Feb 7. PMID: 19269076; PMCID: PMC2814224.
2) Franziska Hainer: Residualsymptome – Was von der Depression bleibt (Medical Tribune) 2023
3) Kognitive Defizite überdauern die Depression | springermedizin.de
5) Auswirkungen und Folgen einer Depression - Neurologen und Psychiater im Netz
6) BrainMag 2020: Die Heilung von Depressionen braucht Zeit
7) Sabine Hocklig im Interview mit C. Kleinschmidt: "Das Leben wird nach einer Therapie nicht leichter" (Zeit online)
8) Hammer-Helmich L, Haro JM, Jönsson B, Tanguy Melac A, Di Nicola S, Chollet J, Milea D, Rive B, Saragoussi D. Functional impairment in patients with major depressive disorder: the 2-year PERFORM study. Neuropsychiatr Dis Treat. 2018 Jan 9;14:239-249. doi: 10.2147/NDT.S146098. PMID: 29386897; PMCID: PMC5767094.
9) Hammar Å and Årdal G (2009). Cognitive functioning in major depression – a summary. Front. Hum. Neurosci. 3:26. doi: 10.3389/neuro.09.026.2009
10) G. I. Papakostas MD: Major Depressive Disorder: Psychosocial Impairment and Key Considerations in Functional Improvement (Am J Manag Care. 2009;15:S316-S321)

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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