Gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland steigt
Für Millionen Menschen in Deutschland ist jede Krise ein weiterer Schlag ins Gesicht, der sie tiefer in einen Strudel aus Existenzangst und Verzweiflung reißt. Die aktuellen Daten vom RKI untermauern diese düstere Realität: Die gesundheitliche Ungleichheit hat in den letzten Jahren weiter zugenommen – und sie trifft jene am härtesten, die es sowieso schon schwer haben. » Teufelskreis der Armut
Zahlen, die sprachlos machen
Wenn ich mir die neuesten Zahlen zur psychischen Gesundheit in Deutschland anschaue, koche ich vor Wut. Von wegen, jede Krise ist eine Chance! Das ist ein zynischer Spruch, der nur jenen auf den Lippen liegt, die das Privileg haben, sich in finanzieller Sicherheit zu wiegen.
Zwischen 2019 und 2024 stieg der Anteil der Menschen mit depressiven Symptomen in der niedrigen Einkommensgruppe von 16 auf sage und schreibe 32,9 %. Das ist eine Verdopplung!
Gleichzeitig lag der Anteil in der hohen Einkommensgruppe 2019 bei 6 % und ist 2024 sogar wieder auf 8,4 % gesunken, nachdem er 2022 kurz bei 11,7 % war.
Die Daten bestätigen, dass Pandemie und Inflation nicht einfach über uns alle gleichermaßen hinweggefegt sind, sondern dass denjenigen, die ohnehin schon hoch belastet waren, auch noch die letzten Kräfte geraubt wurden.
Diese Entwicklung ist nicht neu, aber sie hat sich in den letzten Jahren dramatisch zugespitzt. Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, den auch Fachleute oft nicht wahrhaben möchten: Psychische Erkrankungen sind kein individuelles Problem. Seit Jahrzehnten (!) beweisen Studien unwiderlegbar, dass der sozioökonomische Status ein entscheidender Indikator für psychische Gesundheit ist.
In der Psychotherapie wird ja gerne das Etikett Perfektionismus, Narzissmus oder Persönlichkeitsstörung vergeben, wenn Patienten Probleme in ihren äußeren Umständen sehen. Das ist schlichtweg falsch. Schließlich geht es bei einkommensschwachen Gruppen nie um Materialismus oder Geltungsdrang, sondern um die Erfüllung der Grundbedürfnisse. (Dass man sowas überhaupt noch erklären muss…OMG)
Es ist kein Zufall, dass gerade die Menschen mit niedrigem Bildungsstand und geringem Einkommen am stärksten unter depressiven Symptomen leiden. Das hat nichts mit vermeintlichen "Schwächen", falscher Lebensführung oder fehlender Disziplin zu tun, sondern mit einer systemischen Ungerechtigkeit, die krank macht.
Neoliberale Lösungspsychologie
Der systemische Therapeut Ludwig Mahler (auch Influencer in sozialen Medien), kritisiert diesen "neoliberalen Lösungsfetischismus" scharf (4). „(…) für manche Probleme gibt es keine Lösung, jedenfalls keine, die das Individuum herbeiführen kann. Ich kann doch jemand, der Fluchterfahrung und seine Familie verloren hat, der in Armut lebt, den Job verloren hat, aus seiner oder ihrer Wohnung rausmuss, nichts von Lösung erzählen, da muss ich doch erst mal das Problem würdigen.
Ich kann auch jemand mit Rassismuserfahrung kein Arbeitsblatt mitgeben, „Hier kannst du mal deine Gedanken umstrukturieren, dann ist das nicht mehr so schlimm“. Doch, das ist schlimm. Das ist existenzbedrohend. Aber wenn ich das eingestehe, muss ich als Therapeut das Gefühl der Machtlosigkeit mit aushalten. Und das wollen manche vielleicht nicht."
Vgl. Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft – Das ist Klassismus
Die pauschale Betonung der Eigenverantwortung, die fast in jeder Therapie zu finden ist, lenkt vom eigentlichen Problem ab: den gesellschaftlichen und systemischen Missständen. Mahlers scharfe Analyse geht hier ins Detail und verdeutlicht (4):
„Mit der Therapiesprache verstecken wir hinter wohlklingenden, psychologisierenden Wörtern gesellschaftliche Probleme.“
Wenn Krisen den Unterschied machen
Die brutale Realität
Erinnerst du dich noch an den Beginn der Pandemie? Damals wurde immer wieder betont, dass wir alle im selben Boot sitzen. Und ja, die Belastung nahm in allen sozioökonomischen Gruppen zu. Aber ab 2022, mit den explodierenden Preisen für Energie und Lebensmittel infolge des Ukraine-Krieges, wurden die Unterschiede wieder wahrnehmbar. Während Menschen mit höherem Einkommen oder Vermögen die Preissteigerungen als ärgerlich empfinden, sind sie für einkommensschwache Haushalte eine Katastrophe. Finanzielle Einbußen und Arbeitsplatzverluste führten zu einem immensen Stresspegel. Nico Dragano vom Uniklinikum Düsseldorf erklärt (2):
„Schulden, Existenzängste und Geldmangel sind Risikofaktoren für Depressionen oder Angststörungen“
Und genau diese Risikofaktoren haben sich in den letzten Krisenjahren massiv verstärkt
Das ist kein Geheimnis, das ist eine knallharte logische Konsequenz: Wenn das Geld nicht reicht, um sich selbst gesund zu ernähren oder die Miete zu bezahlen, dann zerfrisst das die Seele. Punkt.
Da hilft kein "positiv denken" (vgl. toxische Positivität) und da hilft auch keine Psychotherapie – da hilft nur ein stabiles, menschenwürdiges Fundament an finanzieller Sicherheit.
Vgl. Psychotherapie Kritik – Wie wirksam ist Psychotherapie bei Depressionen wirklich?
Kosten der Ungleichheit – ein Systemversagen
Die gesundheitliche Ungleichheit manifestiert sich aber nicht nur in der Psyche. Sie ist ein Teufelskreis, der alle Lebensbereiche umfasst. Verina Wild vom Institut für Ethik und Geschichte der Gesundheit (Gesellschaft der Uni Augsburg) hat es treffend beschrieben (2):
„So liegen günstigere Wohnungen häufig an stärker befahrenen Straßen, was schädliche Lärm- und Feinstaubbelastung bedeutet (…) Sie liegen oft weiter weg von Parks und öffentlichen Schwimmbädern, sodass die Angebote weniger genutzt werden können." Vgl. Was Armut mit Kindern macht
Auch der Stress im Job ist größer und intensiver für Menschen mit geringem Einkommen, weil man oft körperlich hart arbeiten muss, schlechtere Arbeitsbedingungen ertragen muss und wenig mitentscheiden darf.
Nicht zu vergessen die Diskriminierungserfahrungen, die sich bei benachteiligten Menschen deutlich häufiger finden – auch das ist ein weit unterschätzter Faktor, der die Psyche massiv belastet und Stressreaktionen im Körper auslöst.
Das alles zusammen macht Menschen anfälliger für alle Arten von Krankheiten – auch für seelische Leiden. Vgl. Gene sind überbewertet
Die Konsequenzen sind verheerend für unsere Gesellschaft. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (2) warnt vor „beunruhigenden Entwicklungen, die sich auf das Gesundheitssystem, aber auch auf viele andere Bereiche auswirken.“ Arbeitsfähigkeit, die allgemeine Gesundheit und die gesellschaftliche Teilhabe sind gefährdet. Vgl. Macht die Gesellschaft depressiv?
Zeeb meint auch: Im schlimmsten Fall, werden Menschen weiter abgehängt, die Selbstmordraten steigen, und der gesellschaftliche Zusammenhalt wird noch geringer. Vgl. Klassismus in Deutschland – Kampf gegen Arme statt Armut
Wir brauchen keine leeren Phrasen, sondern Taten!
Die Lösungen für diese Probleme sind bekannt. Es ist kein Hexenwerk, sondern eine Frage des politischen Willens und einer gesellschaftlichen Prioritätensetzung.
Der fatale Fehler besteht darin, gesellschaftliche Probleme wie Ungleichheit, Diskriminierung oder fehlende Existenzsicherheit durch Psychotherapie lösen zu wollen. Das verschleiert die eigentlichen Ursachen und verschiebt die Verantwortung auf die Betroffenen.
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Über Depressionen sprechen – Sprache & Wirklichkeit
Wir brauchen endlich:
Faire Einkommen, die das Überleben sichern und zum Leben einladen.
Ein gerechtes Steuersystem, das den Wohlstand fairer verteilt und die Schwächeren entlastet.
Gesunde Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen, die niemanden krank machen, sondern Raum für Gestaltungsfreiheit und Wohlbefinden bieten.
Niedrigschwellige Gesundheitsversorgung, die einen freien Zugang zu ärztlicher und psychologischer Hilfe ermöglicht, ohne lange Wartezeiten oder bürokratische Hürden.
Eine starke Sozialpolitik, die ihren Namen verdient und Menschen in Not zuverlässig auffängt und unterstützt.
Gerechtere Rahmenbedingungen im Wohnungsmarkt, damit Wohnraum bezahlbar ist und nicht maßgeblich vom Geldbeutel abhängt.
Gezielte, frühzeitige Betreuung von Kindern, um allen einen fairen Start ins Leben zu ermöglichen.
Gesetzliche Wahrheitspflicht für Politiker, damit sie für Falschaussagen und diskriminierende Behauptungen zur Rechenschaft gezogen werden.
Fazit: Gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland
Angesichts dieser klaren Faktenlage ist es nicht nur fahrlässig, sondern geradezu absurd, weiterhin an individuellen Lösungsansätzen festzuhalten.
Wild hat treffend formuliert (2), warum trotzdem nichts passiert: „Verhältnisprävention, also die Verbesserung der Rahmenbedingungen, ist „leider weniger ‚sexy‘ und Effekte sind auch weniger schnell sichtbar“.“
Aber genau das ist der richtige Weg: Das Übel an der Wurzel packen! Wir können nicht immer nur Symptome behandeln und uns dann wundern, dass seit vielen Jahren immer mehr Menschen psychisch krank werden.
Höchste Zeit also für die Politik und die Gesellschaft, diese Realität endlich anzuerkennen.
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Quellen:
1) RKI-Studie: Kersjes C, Junker S, Mauz E, Beese F, Walther L, Müters S, Schnitzer S, Hoebel J. Income, Educational Level, and Depressive Symptoms in a Time of Multiple Crises: Trends Revealed by High-Frequency Mental Health Surveillance in Germany, 2019–2024. Dtsch Arztebl Int. 2025 Oct 17;(Forthcoming):arztebl.m2025.0130. doi: 10.3238/arztebl.m2025.0130. Epub ahead of print. PMID: 40853323.
2) Werner Bartens: Leiden an der Ungleichheit. Menschen mit geringem Einkommen haben häufiger depressive Symptome (SZ vom 17.10.2025)
3) Sarah Mönkeberg: „Oh dann, dann bin ich wohl das Problem.“ (Selbst-)Pathologisierung im psychotherapeutischen Prozess. In: Polarisierte Welten, Bd 41 (2023) (Ent)Polarisierende Psychotherapie? Soziologie und Psychotherapie in gesellschaftlichen Krisenzeiten. DOI: https://doi.org/10.21241/ssoar.99003
4) Eiken Bruhn: Therapeut über das Reden über Psyche: „Für manche Probleme gibt es keine Lösung“ (taz Interview mit Lukas Mahler vom 22.03.2025)






