Gene sind überbewertet! – Studie zur Ursache von psychischen Erkrankungen
Viele denken, psychische Erkrankungen würden einfach von Generation zu Generation weitergegeben – wie ein Familienerbstück. Eine neue Untersuchung räumt nun mit diesem Irrtum auf: Die meisten Menschen mit Diagnosen wie Schizophrenie, bipolarer Störung, Depression oder Borderline haben gar keine Veranlagung in der Familie.
Das besagt eine große Studie vom Danish Center for Register-Based Research an der Uni Aarhus:
Die Forschenden haben Daten von über 3 Millionen Dänen ausgewertet und hoffen, mit ihren Ergebnissen, Ängste abzubauen und Vorurteile gegenüber Betroffenen zu verringern.
Über die Studie
In dieser Langzeitstudie wurden Menschen dänischer Herkunft begleitet – und zwar von 1970 bis 2021. Dafür wurde auf umfangreiche Bevölkerungsregister zurückgegriffen, um die psychische Gesundheit der Teilnehmenden über mehrere Generationen hinweg zu verknüpfen.
Untersucht wurde eine ganze Reihe von psychischen Erkrankungen: von Substanz- und Cannabiskonsumstörungen über Alkoholprobleme, Schizophrenie und verwandte Störungen bis hin zu bipolaren Störungen, Depressionen und verschiedenen Persönlichkeitsstörungen wie Borderline und antisozialem Verhalten.
Die Wissenschaftler haben dabei das Risiko berechnet, bis zum 60. Lebensjahr an einer dieser Erkrankungen zu leiden – und zwar sowohl das absolute Risiko als auch das Risiko im Vergleich zu Verwandten ersten, zweiten oder dritten Grades. Außerdem haben sie geschätzt, wie stark die Vererbung wirklich ist und wie viele Fälle ohne familiären Hintergrund auftreten.
Besonders cool: Menschen mit eigenen Erfahrungen wurden aktiv in die Planung und Durchführung der Studie eingebunden – Vorbildlich! so wird’s nämlich persönlich und praxisnah.
Die Ergebnisse
Insgesamt wurden über 3 Millionen Menschen (genau 3.048.583) beobachtet – fast gleich verteilt auf Frauen (48,75 %) und Männer (51,25 %).
Wer ein Familienmitglied mit einer psychischen Erkrankung hat, trägt tatsächlich ein höheres Risiko, selbst betroffen zu sein. So weit, so klar. Und je näher die betroffene Person verwandt ist, desto größer ist dieses Risiko.
Zum Beispiel liegt das Lebenszeitrisiko für Depressionen bei knapp 15,5 % für Menschen mit Verwandten ersten Grades, also Eltern oder Geschwistern, die betroffen sind.
Bei Verwandten zweiten Grades, wie Tanten oder Onkeln, sinkt es auf etwa 13,5 %.
In der Gesamtbevölkerung liegt das Risiko bei knapp 7,8 %.
und bei Menschen ohne erkrankte Verwandte ersten oder zweiten Grades sogar nur bei rund 4,7 %.
Die Vererbbarkeit von Depressionen wird auf etwa 45 % geschätzt – aber: D.h. fast 60 % der Fälle treten bei Menschen auf, deren Familie keine entsprechende Vorgeschichte hat. Vgl. Immer mehr psychisch Kranke – eine Mental Health Krise?
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den anderen psychischen Krankheiten: „89 Prozent der Menschen mit Schizophrenie haben keine nahen Verwandten mit dieser Erkrankung. Das zeigt, dass Schizophrenie keineswegs nur in bestimmten Familien vorkommt“, erklärt Studienautor Carsten Bøcker Pedersen.
Vgl. auch Seelische Krankheit – Seelisches Leiden in der Philosophie
Die Studie wirft eine wichtige Frage auf
Wenn die meisten psychischen Erkrankungen bei Menschen auftreten, die keine Verwandten mit derselben Erkrankung haben, wie entstehen sie dann?
„Psychische Störungen sind erblich, aber sie sind auch stark polygen. Sie resultieren oft aus vielen kleinen genetischen Variationen und nicht aus einem einzigen ‚Krankheitsgen‘. Darüber hinaus spielen auch die Umwelt und der Zufall eine Rolle“, erklärt Studienautor Esben Agerbo. „Die Studie ist jedoch bahnbrechend, weil sie das absolute Risiko beschreibt – wie viele von 100 Menschen im Laufe ihres Lebens eine bestimmte psychische Störung entwickeln werden. Das funktioniert wie ein Atlas, der Einzelpersonen hilft, beispielsweise die statistischen Auswirkungen einer psychisch kranken Mutter zu verstehen“, glaubt er.
Die Forscher hoffen, dass die Daten dazu beitragen können, das Bild für Familien zu nuancieren, die von stark vererbbaren Erkrankungen wie Schizophrenie betroffen sind.
„Wenn Ihr Vater oder Ihre Schwester an Schizophrenie leiden, bedeutet das nicht, dass Sie zwangsläufig auch daran erkranken werden. Tatsächlich zeigt die Studie, dass 92 % der Menschen mit einem Verwandten ersten Grades, der an Schizophrenie leidet, selbst nicht an dieser Erkrankung erkranken“, so Pedersen.
Die Untersuchung bestätigt also den Einfluss der Gene auf das Risiko für psychische Erkrankungen. Gleichzeitig zeigt sie aber auch, dass das Ganze nicht linear abläuft. Es gibt nicht „das eine Gen“, das alles bestimmt, sondern viele kleine genetische Veränderungen wirken zusammen.
Außerdem beeinflussen Umweltfaktoren, ob und wie sich eine Erkrankung entwickelt (2). Deshalb ist es so schwierig, genau vorherzusagen, wer aufgrund von Vererbung tatsächlich krank wird.
Vgl. Armut und Depression – gesundheitliche Ungleichheit
„Wenn Sie einen Elternteil oder ein Geschwisterkind haben, das an Depressionen leidet, liegt Ihr Risiko, ebenfalls an Depressionen zu erkranken, bei etwa 15 % – während Ihr Risiko unter 5 % liegt, wenn Sie keine nahen Verwandten mit dieser Erkrankung haben.
Das bedeutet aber auch, dass Sie immer noch eine 85-prozentige Chance haben, nicht an der Krankheit zu erkranken, selbst wenn sie in Ihrer unmittelbaren Familie auftritt. Das ist eine wichtige Botschaft.“
Fazit: Rolle der Gene überbewertet
Die Studie macht klar, dass psychische Erkrankungen nicht einfach ein Gen-Problem darstellen. Klar, Vererbung spielt mit rein, aber ein großer Teil der Menschen mit psychischen Erkrankungen hat keine familiäre Vorgeschichte.
D. h., Gene sind nur ein Teil vom Puzzle. Vielmehr machen Umwelt und Lebensumstände den Unterschied! Vgl. Depression: gesellschaftliche Ursachen & polit. Determinanten – Das zeigt, wie komplex psychische Gesundheit wirklich ist.
Was die Sozialforschung längst weiß, scheint politische Akteure kaum zu interessieren. Darum heißt das diesjährige Schlagwort auf dem Kongress Armut und Gesundheit 2026 auch folgerichtig: Gesundheit ist politisch!
Quellen:
1) The Lancet Psychiatry (2025). DOI: 10.1016/S2215-0366(25)00196-8
2) Ärzteblatt: Umwelt beeinflusst Lebenserwartung stärker als Gene, Nature Medicine 2025; DOI: 10.1038/s41591-024-03483-9
3) Max-Planck-Institut: Der „lange Arm“ der Kindheit (PM)
4) Laurel Raffington et al.: Stable longitudinal associations of family income with children’s hippocampal volume and memory persist after controlling for polygenic scores of educational attainment, Developmental Cognitive Neuroscience 40, https://doi.org/10.1016/j.dcn.2019.100720
5) A&G Diskussionspapier: Gesundheit ist politisch! Was ist uns Chancengerechtigkeit als Gesellschaft wert? (PDF)