Mitgefühlsmüdigkeit – Macht uns zu viel Empathie krank?
Mitgefühlsmüdigkeit betrifft vor allem Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten oder Angehörige pflegen. Wer täglich mit dem Leid anderer Menschen zu tun hat, dem geht das irgendwann an die Substanz. Werden die Belastungen zu groß, verändert sich in der Folge das Verhalten gegenüber Patienten negativ.
Was ist Compassion Fatigue?
Ein einheitliches Konzept der Mitgefühlsmüdigkeit gibt es nicht. Im Grunde beschreibt die Compassion Fatigue einen Zustand der starken emotionalen und physischen Erschöpfung (Burn-out), der bei regelmäßiger Konfrontation mit traumatischen Erlebnissen anderer (traumatischer Stress) eintritt (1).
Einige Experten sehen die Mitgefühlserschöpfung als Berufsrisiko (Nebenwirkung) in helfenden Berufen an (Notfallhilfe, Pflege, Therapie, Sozialarbeit, Polizei, Feuerwehr).
D. h. bei einer Compassion Fatigue haben Betroffene Probleme, das notwendige Maß an Mitgefühl und Empathie für Patienten aufzubringen. Stattdessen machen sich Frust, Abwertung, Gereiztheit und Ungeduld breit.
Bei Rohwetter (3) findet sich eine pointierte, introspektive Beschreibung des Phänomens:
„Mitgefühlsmüdigkeit ist das Erlöschen des Antriebs zu helfen, zu unterstützen oder gar zu lindern. Wir können das Leiden unserer Klientel nicht mehr nachfühlen, sondern beginnen, es innerlich abzuwerten im Sinne von: »So schlimm ist es doch gar nicht, guck doch mal, wie gut du es hast« oder auch streng und hart: »Das ist Bequemlichkeit, sie müsste einfach nur …« Gefühle wie Ungeduld, Langeweile, Stress und Überforderung werden spürbar.“
Vgl. auch Depression Angehörige – Das unsichtbare Leid der Familie
Symptome der Mitgefühlserschöpfung
Überforderung und Hilflosigkeit, wenn andere von ihrem Leid erzählen
Wut, Traurigkeit und Ängstlichkeit gegenüber Patienten oder als allgemeine depressive Verstimmung
Spürbar weniger Empathie und Stresstoleranz
Intrusionen (Bilder, Erinnerungen, Gedanken)
Selbstvorwürfe, Selbstbeschuldigungen
Konzentrations- und Entscheidungsschwierigkeiten
Körperliche Stress-Symptome (Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Schlafprobleme, innere Unruhe)
Beziehungsprobleme, sozialer Rückzug
Medikamenten- oder Drogenmissbrauch
Verlust an Interessen und Hobbys (Anhedonie)
geringere Produktivität, vermindertes Leistungsvermögen
„There is a cost to caring“
Mitgefühlsmüdigkeit als Sekundärtrauma
Mitgefühlsmüdigkeit wird oft in einem Atemzug mit Sekundärtrauma oder ähnlichen Phänomenen genannt. Manche Forscher setzen die Begrifflichkeiten gleich – dazu zählen: indirekte Traumatisierung, Sekundäre Traumatisierung, Sekundäre Traumastörung, stellvertretende Traumatisierung, Co-Traumatisierung, Mit-Traumatisierung, Begleitungs-Burnout, „emotionale Ansteckung“, „transmissive Traumatisierung“, Traumatische Gegenübertragung usw. Andere sehen Unterschiede zwischen all diesen Zuständen. Vgl. auch » Trauma & Depression
Eine Form von sekundärer Traumatisierung liegt bei der Mitgefühlserschöpfung insofern vor, als sie aus der emotionalen Belastung resultiert, die durch die ständige Auseinandersetzung mit dem Leid anderer entsteht.
» Leben mit Depressiven – Depression als Familienkrankheit
Charles Figley, der als einer der ersten die sekundäre Traumatisierung erkannte und erforschte, sieht den traumatischen Stress eher bei Notfall-Helfern (Rettungssanitäter, Notärzte etc.), die Compassion Fatigue soll dagegen mehr bei Klinikpersonal auftreten.
Ursachen der Mitgefühlsermüdung
Emotionale Erschöpfung: Laut Figley (1995) ist Compassion Fatigue eine Form der emotionalen Erschöpfung, die durch die ständige Begegnung mit dem Leid anderer entsteht.
Vicarious Trauma: Herman beschreibt in ihrer Arbeit, dass Fachleute, die mit traumatisierten Personen arbeiten, selbst traumatische Erfahrungen durch Beobachtung und emotionale Reaktion erleben können. = stellvertretendes Trauma
Überidentifikation mit Patienten / Über-Engagement: In einigen Untersuchungen wird ein zu viel an Mitgefühl angesprochen, das zu einem übermäßigen Engagement führe. Die Fachkräfte stellen die eigene emotionale Gesundheit und Bedürfnisse angeblich hinten an und opfern sich auf.
Fehlende Selbstfürsorge: In der Forschung finden sich auch Argumente, die einen Mangel an Selbstfürsorgepraktiken unter Fachleuten als Ursache ausmachen möchten.
Persönliche Vulnerabilität: Einige argumentieren, dass persönliche Eigenschaften, wie emotionale Sensibilität oder frühere traumatische Erfahrungen, das Risiko für Compassion Fatigue erhöhen. Besonders Menschen, die selbst Leid erfahren haben, sollen anfälliger sein, da sie Emotionen intensiver wahrnehmen. » Diathese-Stress-Modell
Dissonanz zw. Erwartungen & Realität: Wenn die tatsächlichen Erfahrungen im Beruf nicht den Erwartungen oder Idealen entsprechen, die Fachkräfte zu Beginn ihrer Karriere hegten, kann dies zu Frustration und letztlich Erschöpfung führen. In dieser Argumentation seien die Betroffenen also zu idealistisch und perfektionistisch.
„Sekundäre Traumatisierung ist Niemandes Schuld, es handelt sich um die zutiefst menschliche Konsequenz, dass wir uns kümmern, dass wir liebevoll sind, dass wir hinschauen und uns mit der Wirklichkeit von Gewalt und Traumatisierungen auseinandersetzen.“
Kritische Einordnung:
Kann ein Mensch zu viel Mitgefühl haben?
Solange es keine einheitliche Definition der Compassion Fatigue gibt, lässt sie sich schwer erforschen. Die Ausführungen zur Entstehung, wie ich sie oben dargestellt habe, sind sehr spekulativ und oberflächlich.
So viele Kritiker machen deutlich, dass bei der Entstehung mehrere Faktoren einfließen, besonders die strukturellen Rahmenbedingungen werden viel zu oft ignoriert oder heruntergespielt.
Gerade in helfenden Berufen sind Überlastung, unzureichende Ressourcen und mangelnde Unterstützung innerhalb des Arbeitsalltags weitverbreitet (2). Wie gravierend sich die Arbeitsbedingungen und Strukturen auf die Gesundheit von Arbeitnehmern einwirken, betonte wieder einmal eine neuere Übersichtsarbeit zum Thema (7):
“Die Hauptrisikofaktoren für Mitgefühlsermüdung sind jüngeres Alter, weibliches Geschlecht, Arzt- oder Krankenpflegeberuf, hohe Arbeitsbelastung, lange Arbeitszeiten und eingeschränkter Zugang zu persönlicher Schutzausrüstung (PSA). Eine negative Verhaltensabsicht gegenüber Patienten wurde als Folge von Mitgefühlsermüdung identifiziert.
Interventionen wie die Bereitstellung emotionaler Unterstützung, eine verstärkte Überwachung auf Zustände wie Stress und Burnout und mehr verfügbares Personal trugen dazu bei, das Auftreten von Mitgefühlsermüdung zu minimieren.”
Empathie zu empfinden, kann kein Mensch vermeiden
Da sind Schlagzeilen, wie “Zu viel Empathie macht krank” oder “Wenn Mitgefühl schadet” mehr als irreführend. Was ist das denn bitte für ein unmenschliches Menschenbild, wenn zu weniger Mitgefühl aufgerufen wird?!
Aus meiner philosophischen Perspektive ist die Sache klar: Emotionalen Stress zu empfinden oder mitzufühlen, wenn es einer anderen Person schlecht geht, ist ein natürlicher und gesunder Vorgang. Je näher uns die Person steht, desto stärker die “Gefühlsansteckung”. » Vgl. depressiver Partner zieht mich runter
Es kann also nicht darum gehen, diese Gefühle zu unterdrücken und das ganze Problem den einzelnen Menschen aufzubürden. Die Betroffenen sind dann nämlich wieder Patienten von irgendjemandem, der früher oder später Compassion Fatigue entwickelt.
Es muss vielmehr darum gehen, endlich die außergewöhnlichen Belastungen anzuerkennen, denen Helferberufe und pflegende Angehörige ausgesetzt sind. Entsprechend gilt es, diese Personen primär in der Arbeitswelt, doch auch privat mit den notwendigen Ressourcen und Freiräumen zu schützen, damit sie ihre Kräfte nach einem harten Arbeitstag / Pflege-Alltag wieder regenerieren können.
» Gesellschaftliche Ursachen der Depression oder Depression & Gesellschaft
Wir können doch nicht Menschen wie Kanonenfutter verfeuern und uns dann wundern, warum es immer mehr Kranke in der Bevölkerung gibt.
Fazit: Mitgefühlsmüdigkeit
Compassion Fatigue entsteht durch ein Zusammenspiel von individuellen, sozialen und systemischen Faktoren – genauso wie bei anderen psychischen Problemen bzw. Krankheiten auch. » Psychosoziale Faktoren der Depression
Doch häufig werden nur psychisch-individuelle Ursachen angeführt, um sie zu erklären und dann auch noch missinterpretiert. Außerdem wird das gesamte Phänomen unwissenschaftlich verkürzt, wenn es heißt: Zu viel Mitgefühl kann krank machen.
Es liegt nicht an einer falschen Einstellung des Individuums bzw. zu viel Mitgefühl, wenn die Arbeit kontinuierlich überfordert, sondern an den äußeren Strukturen, die den Einzelnen zwingen, ständig über die eigenen Grenzen und Kräfte hinauszugehen.
Armut & Depression: gesundheitliche Ungleichheit
Entmenschlichte Menschenbilder: Die Grenzen der Naturwissenschaft
Zeitnot & Zeitwohlstand: Der Zeitmangel als Lebensgefühl
Vom Symptom zur Diagnose: Checkliste Depression
Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Quellen
1) American Association of Psychology. (2022). APA Dictionary of Psychology. compassion fatigue.
2) Upton, K.V. An investigation into compassion fatigue and self-compassion in acute medical care hospital nurses: a mixed methods study. J of Compassionate Health Care 5, 7 (2018). https://doi.org/10.1186/s40639-018-0050-x
3) Rohwetter, A. (2019). Wege aus der Mitgefühlsmüdigkeit. Erschöpfung vorbeugen in Psychotherapie und Beratung. Weinheim, Basel: Beltz.
4) Judith Daniels: Briefingpapier 2016, Sekundärtraumatisierung und Traumatherapie
5) Stoewen, Debbie L. (2019): Moving from compassion fatigue to compassion resilience. Part 2: Understanding compassion fatigue. In: The Canadian veterinary journal, Band 60, S. 1004-1006. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6697064/
6) Singer, Tania; Klimecki, Olga M. (2014): Empathy and compassion. In: Current Biology [Journal], Band 24, Heftnummer 18, S. 875-878. In: https://doi.org/ 10.1016/j.cub.2014.06.054
7) Garnett A, Hui L, Oleynikov C, Boamah S. Compassion fatigue in healthcare providers: a scoping review. BMC Health Serv Res. 2023 Dec 1;23(1):1336. doi: 10.1186/s12913-023-10356-3. PMID: 38041097; PMCID: PMC10693134.