Einsamkeit – Ein Konzept macht Karriere

Es ist erstaunlich, dass der Begriff der Einsamkeit gerade in einer Kultur der größten je dagewesenen Vernetzung von Menschen zu ganz neuer Blüte gelangt. Dass ausgerechnet in einer Zeit, in der uns die Technik ermöglicht, praktisch immer und überall mit jeder und jedem verbunden zu sein, die Einsamkeit zu einem gesellschaftlichen Thema wird, das auch von der Politik aufgegriffen wird, das erstaunt. Das verblüfft. Das verwirrt.

Über Einsamkeit

Ein Konzept macht Karriere

Doch die Relevanz des Themas zeigt sich rasch, wenn man hinter die Fassaden der Netzwerke schaut, die uns die Technik ermöglichen. Es sind oberflächliche, schnelllebige, effekthascherische Relationsgestalten, die oft genug billigen Humor mit beißendem Spott verbinden und eine ernsthafte, tiefe Beziehung von vorneherein ausschließen. Es ist der unverbindliche Kontakt, auch wenn er sich als Freundschaft tarnt, der in unseren Netzwerken dominiert.

Hinzu kommt die Krise der Gemeinschaft. Von der Ehe bis zum Verein, zur Partei, zur Gewerkschaft, zur Kirche. Alle Gemeinschaftsformen sind in der Krise. Das Netzwerk kann sie funktional ersetzen, aber nicht emotional.

Somit haben wir es mit einer Doppel-Problematik zu tun. Zum einen fällt Gemeinschaft weg, ein echter Verlust, zum anderen verstärkt das Netzwerk als Pseudoersatz gerade dieses dumpfe Verlustgefühl, weil wir natürlich merken, dass uns die Sozialen Medien nicht das Soziale ersetzen können.

 

Und genau vor diesem Hintergrund entsteht die Einsamkeit als systemkennzeichnend.

Es ist nicht mehr nur die individuelle Erfahrung, der einsame Wolf, das einsame Genie, das sich vielleicht bewusst aus der Gemeinschaft ausschließt, zugunsten von Freiheit und Selbstbestimmung. Nein, es ist eine kollektive Erfahrung, zumindest eine geteilte Erfahrung sehr vieler Menschen heute, gerade auch derer, die besonders intensiv in virtuellen Netzwerken agieren, also Jugendliche.

Eine 2021 veröffentlichte Studie zeigte, dass Einsamkeit in Schulen und Depressionen bei 15-16-Jährigen zwischen 2012 und 2021 weltweit deutlich angestiegen sind. Freilich geht ein gewisser Teil dabei auch auf die Sondersituation während der Corona-Pandemie zurück, aber das erklärt nur bedingt diesen Trend. Die Washington Post hat am 14. August 2021 über die Studie berichtet, unter dem Titel:

„Teens around the world are lonelier than a decade ago. The reason may be smartphones“ („Jugendliche weltweit sind einsamer als ein Jahrzehnt zuvor. Der Grund könnten Smartphones sein“).

Ist damit alles gesagt? Handy weg und gut? Nein. Freilich ist das Thema doch noch etwas komplexer. Und ich will im Folgenden einfach mal einige Aspekte zusammentragen, die den Begriff der Einsamkeit etwas deutlicher ausleuchten.

 

Einsam ist nicht allein – und umgekehrt

Das erste, was wohl klargestellt gehört, ist die Tatsache, dass Einsamkeit nicht gleichzusetzen ist mit Alleinsein. Man kann einsam sein in Gruppen, in Massen (Love-Parade), in Paarbeziehungen, in Familien, in Schulklassen, in Sportmannschaften usw. Gleichzeitig ist nicht jede und jeder, die oder der allein lebt oder sich viel allein beschäftigt, einsam. Es gibt Formen selbstgewählter Isolation, v.a. zeitweilig, die kein Gefühl von Einsamkeit heraufbeschwören, sondern tiefe Erfüllung bringen.

Andererseits gibt es schon eine gewisse Korrelation zwischen der sozialen Einbindung und Einsamkeit. Entscheidend ist, dass Einsamkeit ein Gefühl ist, dass sich zwar desto eher einstellt, je länger man allein ist, dass sich aber nicht zwingend einstellen muss. Wenn das Alleinsein selbstgewählt ist, also nicht als Mangel empfunden wird, ist man nicht einsam. Man kann als Single glücklich sein – warum nicht? Umgekehrt kann man sich einsam fühlen, wenn zwar nicht die Quantität, wohl aber die Qualität – nach eigenem Ermessen – der vorhandenen Beziehungen unbefriedigend ist. Und genau das scheint mir in einer Zeit, in der man 500 Facebook-Freunde hat, aber trotzdem niemandem für das ernste, tiefe Gespräch, das entscheidende Problem zu sein.

Also, Einsamkeit ist eine „wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen eines Menschen“ (Wikipedia).

 

Qualität von Beziehungen

Preisfrage ist nun: Was bedeutet „Qualität“ im Kontext von Beziehungen?

Das ist nun sehr subjektiv. Und das macht die Sache gesellschaftlich schwierig. Wenn also die Politik etwas gegen Einsamkeit in der Gesellschaft unternehmen will, dann kann sie nur die Möglichkeiten fördern, gute Beziehungserfahrungen zu machen.

Die Bewertung obliegt weiterhin der oder dem Einzelnen. Politische Programme können Begegnungsräume schaffen, Perspektiven für Gemeinschaft eröffnen, Menschen aus der Isolation holen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ob das auch dazu führt, dass diese Menschen dann nicht mehr einsam sind oder ob sie das überhaupt wollen, aus dem Alleinsein „befreit“ zu werden, das ist eine ganz andere Frage.

Aber vielleicht lassen sich doch allgemeine Qualitätsmerkmale benennen. Ich will mal einige Thesen wagen, die sich nach dem, was ich gelesen habe, so oder so ähnlich formulieren lassen. Drei Punkte:

 

1. Persönlichkeit.

Der Mensch braucht persönliche Beziehungen, d.h. er muss in der Beziehung als Person wahrgenommen und damit wertgeschätzt werden. Das Bedeutet eine gewisse Ganzheitlichkeit der Sicht auf die oder den Anderen, über die konkrete Rolle und die spezifische Funktion hinaus. Wenn ich immer nur auf ein Merkmal oder eine Eigenschaft reduziert werde, könnte ich irgendwann die Beziehung, in der das stattfindet, als unbefriedigend empfinden. Und das erklärt auch, warum man sich in Gruppen einsam fühlen kann, weil und soweit man dort auf bestimmte Muster festgelegt wird. Beispiel: Klassenclown. Ganz schlimme Form von „Musterung“ ist Mobbing, wenn bestimmte Eigenschaften dazu führen, dass man immer wieder angegangen – früher hätte man gesagt „gehänselt“ – wird, und diese Eigenschaften dann vollends die Persönlichkeit definieren sollen, oft über entsprechend bösartige Spitznamen im Alltag verstetigt. Es geht dabei nicht um harmlose Neckerei, sondern wirkliche Eingriffe in die Würde. Die Grenze ist sicherlich fließend, aber es ist in jedem Fall eine Unsitte und ein großes Problem, das ebenfalls durch die Sozialen Medien an Brisanz zugenommen hat. Doch auch ganz allgemein gilt: Immer nur eine Rolle zu spielen und nur in dieser fixen Rolle akzeptiert zu werden (das kann auch eine scheinbar positive oder zumindest positiv gemeinte Rollenzuschreibung sein), macht einsam.

 

2. Ernsthaftigkeit.

In einer Beziehung, die positiv wahrgenommen wird, nimmt man sich ernst. Das heißt nicht, dass man nie lacht oder nur über Tarkowski-Filme redet, es heißt einfach, dass man bereit ist, Gefühle zu teilen und sich auf die Gefühlslage der oder des Anderen einzulassen (mit den Fröhlichen lachen, mit den Trauernden weinen – gerade letzteres fällt schwer). Ich fühle mich immer unglaublich einsam, wenn ich jemandem von einer Sache, die mich beschäftigt, die mir wichtig ist, erzähle, und ich höre dann: „Ach, das darfst Du nicht so ernst nehmen!“ oder „Naja, wenn Du sonst keine Probleme hast...!“. Es ist mir aber aber ernst, es ist für mich ein Problem. Oder, wenn ich eine depressive Episode durchlebe und dann nur höre „Kopf hoch, wird schon wieder!“. Das ist vielleicht nett gemeint, aber es ist nicht ernst gemeint. Es kann nicht ernst gemeint sein, weil es mich und meine Gefühle nicht ernst nimmt. Und nicht ernst genommen zu werden, macht einsam.

 

3. Gegenseitigkeit.

Erfüllende Beziehungen beruhen darauf, dass man sich austauscht. Geben und Nehmen. Nicht im Sinne ökonomischer Tauschprozesse der Gleichwertigkeit (Ware und Preis) oder teleologisch-intentional nach dem Rechtsprinzip „Do, ut des“ („Ich gebe, damit du gibst“), fordernd, mit Anspruch gewissermaßen, sondern sich natürlich und spielerisch einstellend. Wenn das nicht der Fall ist, wird die Beziehung nicht als von besonders hoher Qualität geprägt angesehen werden können. Einbahnstraßenbeziehungen machen einsam.

 
Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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