Einsamkeitsfähigkeit – Können wir nicht mehr einsam sein?
Einsamkeit ist schmerzlich, doch ebenso eine unausweichliche Realität unseres Daseins. In der Philosophie betont man gerne die positive Erfahrung des Einsam-seins als Einsamkeitskompetenz. Gleichzeitig wird die negative Form der Einsamkeit als Gefahr für unsere westliche Gesellschaft dargestellt. Was stimmt denn nun? Haben wir wirklich alle verlernt, einsam sein zu können?
Werden wir immer einsamer?
Vor (fast genau) 20 Jahren war es noch die Depression (6), heute wird das Zeitalter der Einsamkeit ausgerufen (1). Nicht von ungefähr: Laut Statistiken soll die Einsamkeit in Deutschland zugenommen haben. Und diese ist wiederum ein Faktor für Gesundheitsprobleme aller Art und frühe Tode. Deswegen hat sich die Bundesregierung Ende 2023 auf eine Strategie gegen Einsamkeit (7) geeinigt.
Gleichzeitig steht die Frage im Raum: Ist es wirklich so schlimm? Werden die Menschen immer einsamer?
Zu wenige Vergleichsdaten
Bedenklich ist, dass die neuere Forschung sich mit der Verbreitung von Einsamkeit beschäftigt, also quantitativen Daten. Obwohl wir Informationen über die Verteilung von Einsamkeitsgefühlen innerhalb der Bevölkerung haben, fehlen umfassende Analysen, die über einen längeren Zeitraum durchgeführt wurden, und dadurch repräsentative Daten.
D. h. der Vergleichsraum für Einsamkeits-Zunahmen oder -Abnahmen ist sehr, sehr kurz für wissenschaftliche Standards.
Uneinheitliche Definition
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Definition von Einsamkeit. Je nach Fachrichtung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die meisten Einsamkeits-Studien orientieren sich zwar an der Definition von Perlman und Peplau, nivellieren dabei aber unterschiedlich konnotierte Einsamkeitserfahrungen.
Unzureichende Methodik
Es gibt internationale Standard-Fragebögen, mit denen Einsamkeitsgefühle in der Bevölkerung erfasst werden sollen. Doch häufig kommt nur eine Kurzform mit 3 Fragen zur Anwendung (1):
Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Gesellschaft anderer fehlt?
Wie oft haben Sie das Gefühl, außen vor zu sein?
Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Sie sozial isoliert sind?
Auf der Grundlage dieser Fragen werden dann Schwellenwerte berechnet, um Einsamkeit zu beurteilen. Allerdings sind Ausgrenzung oder soziale Isolation etwas anderes als Einsamkeit, jedenfalls bringen sie weitere Bedeutungen mit sich, die über Einsamkeitsgefühle hinausgehen oder ihnen eine spezielle Nuance verpassen.
Können solche Fragen also wirklich die Verbreitung von Einsamkeit richtig erfassen? Und welche Rolle spielt dabei die Interpretation derjenigen, welche die Antworten auswerten?
Zu allgemein
Die Forschung zur Einsamkeit konzentriert sich hauptsächlich darauf, Einsamkeit quantitativ zu messen. Dafür braucht es statistische Methoden, schon klar. Doch genauso wie es bei Angststörungen und Depressionen nicht genügt, einfach nur die Zahlen zu betrachten, ist es auch bei der Einsamkeit notwendig, die Kontexte und Prozesse zu untersuchen, welche die Einsamkeit verursachen.
Im Klartext: Das Wie ist ebenso wichtig wie das Was.
Die Forschung muss also nicht nur klären, was Einsamkeit ist, sondern auch, wie sie entsteht und empfunden wird. Ursachen, Erleben, individuelle Relevanz, gesellschaftliche Einflüsse – das alles muss zusammen gedacht werden, um Einsamkeitserfahrungen zu erforschen.
Bedeutung von Einsamkeit
In der Psychologie (8) definiert man Einsamkeit als ein subjektives Gefühl, das von verschiedenen objektiven Faktoren beeinflusst wird. Betont wird hier auch die Unterscheidung von Einsamkeit und physischem Alleinsein, sozialer Isolation und dem positiv erlebten Für-sich-Sein (= Individualität, Freiheit, Selbstentfaltung).
Insgesamt gibt es 3 Arten von Einsamkeitsgefühlen: existenzielle Einsamkeit, emotionale Einsamkeit und soziale Einsamkeit.
Einsamkeit als Freundin der Philosophie
Im Alltagsverständnis ist Einsamkeit negativ besetzt. Frühere (Nietzsche, Kierkegaard) und neuere Philosophen betonen dagegen das Positive der Einsamkeit. Ganz vorn mit dabei Arthur Schopenhauer:
„Der Mensch kann nur so lange er selbst sein, wie er allein ist; und wenn er die Einsamkeit nicht liebt, wird er die Freiheit nicht lieben; denn nur wenn er allein ist, ist er wirklich frei.“
Schopenhauer sah die Abkehr von der Gesellschaft nicht als Gefahr, sondern als eine Möglichkeit, ehrlich mit sich selbst zu sein, frei von gesellschaftlichen Zwängen. Also: je einsamer, desto freier.
Der Geist ist "umso aktiver, je weniger äußere Intuition durch die Sinne auf uns einwirkt. Lange Einsamkeit im Gefängnis oder in einem Krankenzimmer, Ruhe, Dämmerung und Dunkelheit sind für seine Aktivität förderlich; unter ihrem Einfluss beginnt er spontan zu spielen.“
Offensichtlich ist das, was Schopenhauer unter Einsamkeit verstand, keine schmerzliche Vereinsamung, sondern eine ruhige Abgeschiedenheit.
Marquard über Einsamkeitsfähigkeit
“Was uns modern vor allem plagt, quält und malträtiert, ist also nicht die Einsamkeit, sondern der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, das Siechtum der Lebenskunst, Einsamkeit positiv zu erfahren.” (5)
Bereits vor 30 Jahren beklagte der Philosoph Odo Marquard in seinem berühmten Radiobeitrag von 1983, dass die Menschen im 20. und 21. Jh. verlernt hätten, mit Einsamkeitserfahrungen umzugehen. Daher müsse sich jeder Einzelne bemühen, wieder einsam sein zu können und diese Erlebnisse mit positiver Bedeutung zu füllen. Nach ihm sei es unerlässlich, die Einsamkeitsfähigkeit zu kultivieren – am besten mit Humor, Bildung und Religion.
Ich finde, die ganze These ist starker Tobak: Wir können nämlich gar nicht wissen, ob Menschen früher besser mit Einsamkeit klarkamen. Das liegt u. a. am Bedeutungswandel des Begriffes sowie fehlenden Daten.
Und wenn einer ganzen Gesellschaft wirklich die Ressourcen fehlen, um Einsamkeit zu ertragen, warum wird dann wieder die individuelle Ebene so hervorgehoben, anstatt sich auf das emanzipatorische Potenzial und die Veränderung der Rahmenbedingungen zu konzentrieren?
Svendsen über gute und schlechte Einsamkeit
In die gleiche Bresche schlug der norwegische Philosoph Lars Svendsen, der zwischen negativer und positiver Einsamkeit unterscheidet, von Nietzsche inspiriert. Die positive Einsamkeitsform sorgt für Halt, stärkt das Selbstvertrauen und motiviert, mental und emotional wieder ins Gleichgewicht zu kommen (Selbstkalibrierung). Die negative Einsamkeit ist dagegen durch Selbstzweifel, Ängste und Mutlosigkeit geprägt.
“Dass (diese Form der) Einsamkeit uns heute so sehr zusetzt und zu einem offenbar globalen Problem geworden ist, hängt wesentlich auch damit zusammen, dass wir Einsamkeit nicht mehr als eine unverzichtbare Grundstimmung unseres Daseins begreifen und sie aus unserem Leben zu verdrängen suchen.” (3)
Auch hier also der Fokus auf die individuelle Verantwortung: Lerne, Einsamkeit als Bestandteil des Daseins zu betrachten, wie die vielen Generationen es vor uns konnten, und erkenne ihr Potenzial.
Der Literaturwissenschaftler Wilczek formuliert es im Philosophie-Magazin (anlässlich seiner Buch-Veröffentlichung) so:
“Wir begreifen sie heute vielfach nur als eine Bedrohung, hervorgerufen durch eine politische, gesellschaftliche und ökonomische Fehlentwicklung – das ist jedoch zu kurz gegriffen. (…) Natürlich muss der Staat durch entsprechende Gesetze und Konzepte dafür sorgen, dass ein förderliches Klima geschaffen wird, in dem Menschen den Umgang mit einer positiven Einsamkeit lernen und zu einem zentralen Bestandteil ihres Lebens machen können.
Die Fürsorge des Staates allein wird aber nicht ausreichen, dieses Problem zu bewältigen. Wir müssen uns selbst um unsere Einsamkeit kümmern, sie ist unsere Lebensaufgabe in dem Moment, in dem wir das Licht der Welt erblicken.” (3)
Individualisierung eines sozialen Problems
Ich muss ehrlich sagen, Positionen wie die von Wilczek, Marquard oder Svendsen sind ganz schön abgehoben und machen es sich viel zu einfach. Es ist ignorant und arrogant, allen Menschen in einer Gesellschaft pauschal die Einsamkeitskompetenz abzusprechen, ohne die Unterschiede in den jeweiligen Erfahrungen und konkreten Lebenssituationen zu kennen. Langanhaltende Einsamkeit in Armut ist etwas anderes als das Einsamkeitsempfinden, welches jeder von uns kennt. Darüber hinaus:
Einsamkeit als individuelle Lebensaufgabe ist ebenso zu kurz gegriffen wie eine rein politische Definition. (Oder wurde hier der philosophisch geprägte Begriff „existenzielle Einsamkeit“ mit einer allgemeinen Einsamkeit verwechselt?)
Menschen und Philosophen in früheren Zeiten verstanden unter Einsamkeit etwas anderes als wir heute. Wir können also nicht einfach Bücher aus den letzten Jahrhunderten zücken und eins zu eins auf unsere heutige Lebenswelt übertragen (Stichwort: Anachronismen!).
Der Diskurs über Einsamkeit in der Philosophie wird von wohlsituierten Intellektuellen beherrscht. Ein Kierkegaard, der so reich war, dass er lebenslang nie arbeiten musste, hatte ganz andere Möglichkeiten in der Gesellschaft als ein normaler Bürger. Und Nietzsche zwar “verarmt”, dennoch hatte er genügend wohlhabende Freunde, die ihn aushielten und seine vielen Reisen finanzierten. Ich will damit sagen: Früher wie heute genießen die meisten Wissenschaftler privilegierte Lebensverhältnisse, denen sie u.a. ihre positive Sicht auf die Einsamkeit zu verdanken haben. Davon allgemeingültige Aussagen abzuleiten, ist ziemlich naiv.
Fazit: Einsamkeit ist keine Krankheit, aber ein soziales Problem
Wir wissen nicht, ob Menschen heute einsamer sind als früher. Doch in jedem Fall ist das Thema ernst zu nehmen, wenn immer mehr Menschen darüber klagen. Einsamkeit ist komplex, vielschichtig und ein soziales Phänomen, da sie immer die Beziehung von Individuum und Gemeinschaft betrifft.
Der Fokus auf individuelle “Lösungen“ ist dem neoliberalistischen Zeitgeist geschuldet, blendet die soziale Dimension aus und führt letztlich dazu, dass wir notwendige kollektive Ressourcen gar nicht erst aufbauen können.
Anstatt Einsamkeit auf eine persönliche Lebensaufgabe zu reduzieren, sollten wir v. a. die sozialen und politischen Strukturen hinterfragen, die unser Einsamkeitserlebnis heute so negativ prägen.
Quellen:
1) Daniel Ewert/Heike Ohlbrecht: Über die Einsamkeit der Individuen in unseren Tagen Einsamkeit erfährt derzeit immense Aufmerksamkeit. Befinden wir uns tatsächlich im Zeitalter der Einsamkeit? Es gibt gute Gründe, nicht nur auf die Verbreitung von Einsamkeit zu schauen, sondern auch darauf, wie sie je nach Kontext und Lebensphase empfunden wird. www.bpb.de/557851
2) Alexander Langenkamp/Jan Brülle: Einsamkeit und Armut: Eine zirkuläre Beziehung Einsamkeit wird häufig allein als Folge sozialer Ungleichheit betrachtet. Tatsächlich aber sind Einsamkeit und Armut wechselseitige Risikofaktoren füreinander: Einsamkeit kann also ebenso als Ursache und Verstärker sozialer Ungleichheit verstanden werden. www.bpb.de/557855
3) Reinhard Wilczek: Haben wir verlernt, einsam zu sein? (Philosophie Magazin, 06.12.2022)
4) Huw Davies: Loneliness and Philosophy: The Philosopher’s Approach to Loneliness (APA-Blog, American Philosophical Association, 16.09.2024)
5) Odo Marquard: Einsamkeit ist unvermeindlich, wir sollten sie gestalten: Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit (einfach leben, Het 2012, Nr. 10)
6) Hans-Martin Lohmann: Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart (Deutschlandfunk Archiv, 10.01.2005)
7) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Strategie gegen Einsamkeit, 2023
8) Spektrum Lexikon der Psychologie: Einsamkeit