Herausforderung Globalisierung

Mit dem Mauerfall vor 36 Jahren begann eine neue Zeit, die uns nicht das „Ende der Geschichte“, sondern den Anfang einer neuen Unübersichtlichkeit brachte. Die Globalisierung wird unter diesem Vorzeichen zu einer Herausforderung.

Globalisierung als Herausforderung

Als am 9. November 1989 die Menschen aus Ost und West auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor tanzten und feierten, schien eine Ära anzubrechen, die beinahe utopischen Charakter zu haben schien.

Eine Zeit der Überwindung von Teilung und Trennung, eine Zeit des Friedens und der Zusammenarbeit im „globalen Dorf“, ja sogar das „Ende der Geschichte“ schien nahe, an dem allen Menschen ohne Unterschied Teilhabe an Frieden und Freiheit, Prosperität und Progression, Gerechtigkeit und Glück beschieden sein sollte.

 

Kein „Ende der Geschichte“, sondern Anfang der Unübersichtlichkeit

Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? ist der Titel eines 1992 erschienen Buches von Francis Fukojama, das für viel Aufsehen sorgte und dem Geschichtsphilosophen Fukojama den Ruf eines „postmodernen Hegel“ einbrachte. Mit Ende der Geschichte wollte Fukojama nicht zum Ausdruck bringen, dass es keine Geschichte mehr gibt – was immer das geheißen hätte – sondern seine Hauptaussage ist, dass es neben dem liberal-kapitalistischen, freiheitlichen Modell der USA und des „Westens“ kein legitimes Gegenmodell mehr gibt. Dieser Eindruck wurde verstärkt, als sich 1991 die Sowjetunion auflöste. Das Imperium zerfiel in Einzelstaaten, die sich übergangsweise im losen Staatenbund der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) zusammenschlossen; Russland trat die völkerrechtliche Nachfolge der Sowjetunion an. Von daher sprechen einige von der „Epochenwende 1989/91“, so Laubach (2004, 10), die als charakteristische Ereignisse den „Zusammenbruch des Sowjetimperiums (1989) und [die] Auflösung der Sowjetunion (1991)“ nennt.

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Knapp vier Jahrzehnte danach sieht die Bilanz ernüchternd aus: Die Aufhebung der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges hat zwar zum Ende der ideologischen Spannungen zwischen Kapitalismus und Kommunismus geführt, aber an ihre Stelle traten ethnische, ökonomische und religiöse Auseinandersetzungen, die in ihrer Asymmetrie und Unberechenbarkeit in allen Regionen der Welt Kriege auslösten und auslösen und jederzeit neu auslösen können. Das Utopia des „ewigen Friedens“ ist also weit entfernt, weiter denn je. Eine Reihe von Veränderungen der letzten 30 Jahre trägt zu der neuen globalen „Unübersichtlichkeit“ bei, welche „die Tendenz einer neuen Entgrenzung der Hegungen, die das Völkerrecht bislang in seiner mehr als 350jährigen Geschichte um die Potentiale der Gewalt gelegt hat“ (Laubach 2004, 22) zu stützen scheint.

 

Globalisierung in zehn Punkten

Zu nennen sind folgende zehn durchaus ambivalent und widersprüchlich wirkende Globalisierungsphänomene, die in den vergangenen Jahrzehnten in den internationalen Beziehungen deutlich hervortraten:

1. Die Zahl der Staaten hat sich erheblich erhöht, wodurch die politische Welt stärker zersplittert ist als je zuvor in der modernen Geschichte, während sie gleichzeitig aufgrund der intensiven Verflechtungen der Staaten und Gesellschaften immer mehr zu einer Einheit zusammenwächst.

2. Die internationale Gemeinschaft umschließt alle Staaten und bringt damit extreme Unterschiede im Niveau wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher und kultureller Qualität zusammen, so dass sich die normative Konzeption der Vereinten Nationen als Gemeinschaft rechtlich gleicher Staaten zusehends von der Wirklichkeit zu entfernen droht.

3. Die Grenzen der Staaten sind für Güter und Dienstleistungen, aber auch für gefährliche und umweltschädliche Stoffe, für Ideen und kulturelle Praktiken, aber auch für zerstörerische Ideologien, durchlässig geworden. Grenzen definieren nicht länger einen geschlossenen Raum exklusiver staatlicher Herrschaft.

4. Die Grenzen der Staaten sind für Menschen semipermeabel, d. h. es gibt einen Unterschied zwischen Ausreise- und Einreisemöglichkeit, zwischen Freizügigkeit im Land und globaler Freizügigkeit, wobei einige, v. a. Angehörige der reichen Industrienationen, fast überall und andere, die Angehörigen der armen Entwicklungsländer, fast nirgendwo einreisen dürfen. Dabei ist Migration heute ein weltweites Massenphänomen. Nie zuvor wanderten so viele Menschen von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Teils mehr oder minder freiwillig als Arbeits- und Wirtschaftsemigranten, zu Studien- und Forschungszwecken oder aus privaten Gründen, teils unfreiwillig als Flüchtlinge, die in ihrer Heimat Krieg, Terror, Repression und Not erlebten und die sich und ihren Kindern in der Ferne eine bessere Zukunft bereiten möchten. Viele sind dabei aufgrund der beschriebenen eingeschränkten Freizügigkeit dort, wo sie sich aufhalten, „illegal“.

5. Aufgrund der Migration und der technologischen Entwicklung bei den Verkehrs- und Informationsmitteln sind die Menschen einander näher gerückt, wodurch die zwischen ihnen bestehenden Diskrepanzen im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungsstand sichtbar und zum Anlass für internationale Verteilungskonflikte werden können.

6. Einerseits kann eine stärkere Kollaboration, eine umfangreichere Handelsaktivität und ein Technologietransfer die Unterschiede nivellieren helfen, andererseits können die Diskrepanzen Barrieren schaffen, die ein faktisches Ausschlusskriterium hinsichtlich einer fairen Beteiligungschance darstellen und die schlechter gestellten Entwicklungsländer einseitig auf exportorientierte Produkte festlegen. Dabei wiederum können die Diskrepanzen – etwa bei den Arbeitskosten – zugleich bewusst ausgenutzt werden, um die in der reichen Welt teuer vermarkteten Produkte in der armen Welt billig herstellen zu lassen, eine bittere Ironie des Machtgefälles zwischen „Erster“ und „Dritter Welt“.

7. Bedeutende Politikfelder – vor allem die Wirtschafts-, Steuer-, Finanz- und Geldpolitik – entziehen sich in dem, was als Globalisierung beschrieben wird, zunehmend der Kontrolle demokratisch legitimierter nationaler Parlamente und werden zum Objekt intransparenter Kräfte und Prozesse auf inter- und transnationaler Ebene. Eine Schwächung der demokratischen Staatssysteme in ihrer Legitimations- und Jurisdiktionskraft ist das Ergebnis, das wiederum ein schwindendes Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit der Politik seitens der Menschen zur Folge hat.

8. Gleichzeitig jedoch wirkt eine immer größer werdende Zahl zivilgesellschaftlich verankerter und basisdemokratisch organisierter nicht-staatlicher Akteure (so genannte „Nichtregierungsorganisationen“, NROs) in vielen internationalen Zusammenhängen mit und erweitert die Grundlage legitimen politischen Gestaltens.

9. In einigen Fällen versagen die Staaten in ihrer vom geltenden Völkerrecht unterstellten Rolle als souveräne Garanten eines zivilisatorischen Mindeststandards in ihrem Hoheitsbereich. Durch ihren Mangel an einer hinlänglich durch Recht regulierten inneren Ordnung werden sie zu einer Quelle internationaler Unsicherheit.

10. Bewaffnete Konflikte mit negativen Auswirkungen auf die internationale Sicherheit haben nicht nur zwischenstaatlichen Charakter (wie etwa beim Angriff Russlands auf die Ukraine), sondern werden oftmals zwischen nicht- und parastaatlichen Akteuren wie ethnischen und religiösen Gruppen oder auch hochorganisierten Verbrechersyndikaten und terroristischen Netzwerken ausgetragen, die in bedrohlicher Weise einen antizivilisatorischen Affekt mit der effizienten Nutzung modernster (Waffen-)Technologie zu destruktiven Zwecken verbinden. Aufgrund technologischer und ökonomischer Entwicklungen sind selbst Massenvernichtungswaffen prinzipiell nicht länger nur großen Staaten zugänglich, sondern auch nichtstaatlichen Akteuren. Die Kontrolle der Herstellung und Verbreitung solcher Waffen wird damit zu einem zentralen Anliegen internationaler Politik.

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Von der Unordnung zur „UN-Ordnung“...

Diese Wandlungen richten neuartige Herausforderungen an die Fähigkeit und den politischen Willen aller Akteure der internationalen Gemeinschaft, die Ziele der Vereinten Nationen zu erreichen: die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die Selbstbestimmung und die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Völker sowie die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte. Es ist angesichts der Fülle und Komplexität der Probleme fraglich, ob es die Weltgemeinschaft in ihrer jetzigen organisationalen Konstitution schaffen kann, diese Ziele zu erreichen. Doch es gibt auf der globalen Ebene eine Entwicklung, die Anlass zur Hoffnung gibt.

Ich meine die veränderte Rolle des Völkerrechts und der völkerrechtlichen Institutionen, allen voran der Vereinten Nationen, die nach Jahrzehnten von realpolitisch erzwungener Passivität die Möglichkeit einer aktiv gestalteten Politik ins Auge fasst, wenn es darum geht, den Terrorismus zu bekämpfen, massiven Menschenrechtsverletzungen in unserer Welt mit militärischen Interventionen Herr zu werden und das Klima zu schützen. Die neue Aktiviertheit bahnt den Weg von der angesichts der unübersichtlichen Lage hilflos erscheinenden Koordinationsbemühung zur subordinativ wirkenden Jurisdiktion-, Sanktions- und Exekutionsmacht, welche die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen schafft, um in der Konstitution der Welt von der Unordnung zur „UN-Ordnung“ zu gelangen.

 

...oder doch nicht?

Dabei gibt es neben der Entwicklung der Vereinten Nationen zur völkerrechtlich bestellten Macht, prinzipiell noch drei weitere Möglichkeiten, der veränderten Lage nach dem Kalten Krieg zu begegnen und die „Anarchie der Staatenwelt“ zu überwinden, so dass es insgesamt vier Modelle gibt, die jeweils auf einem philosophischen Paradigma basieren (vgl. Menzel 2004, 8 ff.; Laubach 2004, 16 ff.):

1. Das Modell der überragenden Einzelhegemonie, der einer Epoche den Stempel seiner überlegenen Macht aufdrückt und getrieben ist vom Paradigma des Imperialismus. Ziel des Einzelhegemons ist die konkurrenzlose Weltherrschaft. Ob dies je gelungen ist, wird von Historikern kontrovers diskutiert. Fest steht, dass Rom um die Zeitenwende dieser absoluten Herrschaft zumindest nahe gekommen ist. Ein weiteres Beispiel ist das Spanische Habsburgerimperium nach der Personalunion und der Eingliederung Portugals (1580) (Menzel 2004, 24).

2. Das Modell der Kollektivhegemonie zweier oder mehrerer „Supermächte“, die ihrerseits Staaten politisch und militärisch an sich binden und die Welt in „Blöcke“ teilen. Dem liegt das hegemonietheoretische Paradigma zugrunde, das bezeichnend war für die bipolare Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg.

3. Das Modell des multipolaren Gleichgewichts, das sich etwa in der realistischen Sicht internationaler Beziehungen, wie sie Hegel vertritt, begründen lässt und das sich durch Selbsthilfe, Machtpolitik und das „Gleichgewicht der Kräfte“ auszeichnet. Historische Beispiele sind sowohl die Westfälische Ordnung (1648) und die Ordnung von Utrecht (1713), als auch die Neuordnung Europas im Rahmen der Restauration nach dem Wiener Kongress (1815).

4. Schließlich das Rechtsmodell, das auf dem völkerrechtlichen Idealismus Kants aufbaut und die Vereinten Nationen als eine universelle Rechtsgemeinschaft auffasst, die sich selbst im Rahmen der Norm zur Aktivität berechtigt, befähigt und bemächtigt.

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Die Macht des Rechts

Das normative Ideal ist das zu favorisierende Modell für das 21. Jahrhundert, obwohl auch alle anderen Szenarien möglich sind. So wäre es durchaus denkbar, dass sich in Gestalt der USA kurzfristig ein Einzelhegemon bildet, der den politischen Willen besitzt, de facto die Welt zu beherrschen. Ebenso könnten sich mehrere ökonomische „Supermächte“ bilden (USA, Europäische Union, China), die in ihrer Region über genügend Anziehungspotential verfügen, die Welt wieder in Blöcke zu unterteilen und eine „Triade“ (Köpf 1998, 23) zu bilden – Nordamerika, Europa, Südostasien –, die sich in „Kalten Wirtschaftskriegen“ um Marktanteile auseinandersetzen, ohne dabei den „Rest der Welt“ im Auge zu haben. Ferner ist denkbar, dass die Vereinten Nationen an ihren hohen Koordinations- und Subordinationsansprüchen zerbrechen und es wieder viele kleine Staaten und Staatenverbindungen (etwa die G 7-Staaten, die Golfstaaten sowie Indien, China, Brasilien, Argentinien, Mexiko und Südafrika) gibt, die untereinander einen multilateralen Ausgleich suchen.

Dennoch sind die Chancen, zu einer globalen Rechtsordnung zu gelangen, so groß wie nie zuvor, zu einer Ordnung also, welche geeignet ist, die „Anarchie der Staatenwelt“ auf dem Rechtswege und nicht über das Souveränitätsmodell in unterschiedlicher Ausprägung und Konstellation des Machtbegriffs zu überwinden. Die Souveränität der Staaten erscheint dabei „in neuem Licht“ (Laubach 2004, 41), sie ist von Verantwortung geprägt, von der Verpflichtung, zur internationalen Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen beizutragen, einerseits durch die Bereitschaft, militärisch zur Wahrung der Menschenrechte, zur Terrorismusabwehr und zum Klimaschutz dort einzuschreiten, wo Staaten ihrer diesbezüglichen Verpflichtung nicht nachkommen wollen („rogue states“) oder können („failed states“), aber andererseits auch durch die Bereitschaft, sicherheits- und menschenrechtspolitisch relevante Präventionsstrategien zu erarbeiten, zu denen etwa die Menschenrechtsbildung zählt.

Nur so können die drei großen Aufgaben der Weltgemeinschaft im 21. Jahrhundert erfolgreich angegangen werden: die Sicherung des Frieden, die Verwirklichung der liberalen und sozialen Menschenrechte sowie die Bewältigung der Klimakrise.

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Literatur:

1) Köpf, Peter, Stichwort Globalisierung, München 1998.
2) Laubach, Birgit, Die Rolle des Völkerrechts in einer globalisierten Welt. Sicherheitspolitische Herausforderungen an die Internationale Ordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Berlin 2004.
3) Menzel, Ulrich, Konkurrierende Weltordnungsmodelle in historischer Perspektive, in: KAS-Auslandsinformationen, Nr. 6, Jg. 20 (2004), S. 4-25.

Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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