Angstgefühle: So alt wie die Menschheit
Die Angst ist ein ständiger Begleiter des Menschen, heißt es in der Psychologie und Existenzphilosophie. Doch warum sind gerade Angstgefühle heute so mächtig und allgegenwärtig, obwohl sich unsere Lebensumstände radikal verbessert haben? Ein Blick auf die leibliche Erfahrung der Angst, ihre Wurzeln und ihre Formen zeigt: Angst ist mehr als nur ein simples Warnsignal unserer Physiologie oder Psyche – sie ist ein komplexes Phänomen, das tief in unserer sozialen Existenz verwurzelt ist.
Die soziale Dimension der Angst
Laut Evolutionspsychologie hat Angst 2 Funktionen:
auf eine natürliche Gefahr hinweisen
Angesichts einer direkten Bedrohung sofort die Flucht, den Kampf oder eine Erstarrung einleiten.
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Diese körperlichen Reaktionen sind unmittelbar und zielgerichtet. Doch heute begegnen wir selten einem Säbelzahntiger oder sind tatsächlich an Leib und Leben bedroht. Die Gefahren, auf die sich die Angstgefühle der Gegenwart richten, sind „subtiler“ und „abstrakter“ – sie betreffen nicht unser Überleben im physischen Sinn, sondern unseren sozialen Wert. Die Angst vor Statusabfall, sozialer Beschämung, existenzieller Unsicherheit oder Verlust sind die neuen Monster unter unserem Bett. Vgl. Wie fühlt sich Angst an? (Philosophie)
Verschiebung von der vitalen zur sozialen Angst
Sie zeigt, wie sehr unsere Gefühle sich mit der Kultur und Gesellschaft wandeln. Viele Fachleute vermuten, dass sich unsere ursprünglichen Gefühle sublimiert haben und so von der physischen Angst zur sozialen Furcht wandelten.
Und tatsächlich treibt die Angst, nicht zu genügen, nicht mitzuhalten, nicht zu funktionieren, viele von uns an. Vgl. Psychosoziale Faktoren der Depression
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Philosophie über Angstgefühle
Angst ist aus philosophischer Sicht ein Urphänomen menschlicher Existenz – ein Gefühl, das uns an die Grenzen unseres Seins führt. Sie offenbart nicht nur eine Bedrohung von außen, sondern trifft uns im Innersten, im Leib und in der Seele.
Existenzialisten wie Kierkegaard oder Sartre sehen in der Angst eine metaphysische Spannung zwischen Freiheit und Ungewissheit: Sie zeigt uns, dass wir nicht nur Gefangene der Welt sind, sondern zugleich die Freiheit besitzen, uns selbst und unsere Lebenswelt zu gestalten – und genau diese Freiheit kann beängstigend sein. Vgl. Angst vor dem Leben
Verleiblichte Angst
Angst ist nicht nur ein Gedanke oder eine Bewertung – sie ist v.a. eine leibliche Erfahrung. Wenn wir Angst haben, spüren wir eine immense Spannung in uns. Unser Organismus reagiert mit stockendem Atem, Herzrasen, Schweißausbrüchen – ein Alarmzustand, der sich jedoch nicht immer in Aktion umsetzen lässt.
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Diese leibliche Resonanz macht die Angst so intensiv und schwer zu kontrollieren
Selbst wenn wir uns einreden, dass keine Gefahr besteht, bleibt die Angst präsent und mächtig. Gefühle sind eben keine kognitiven Urteile, sondern Verkörperungen von Erfahrung. Oder anders ausgedrückt: Die körperlichen und psychischen Reaktionen sind integrale Elemente von Angstgefühlen.
Genau das ist auch das Problem an kognitiven Theorien: Es reicht nicht aus, rationale Gedanken gegen die Angst ins Feld zu führen. Sie ist keine Kopfsache, sondern unmittelbar und elementar.
Kollektive Angstgefühle
Es gibt genügend Katastrophen und Entwicklungen, die uns zu Recht Angst machen: Kriege, Umwelt, politische Umwälzungen etc. In unserer vernetzten Welt, in der Nachrichten und Bilder von Krisen, Katastrophen und sozialen Konflikten unaufhörlich auf uns einprasseln, wächst die Angst.
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Besonders die sozialen Medien verstärken das Gefühl der Ohnmacht und der Unüberschaubarkeit. Gleichzeitig erzeugt die Flut an globalen Bedrohungen ein existenzielles Gefühl der Ungeborgenheit. Doch trotz Krieg, Klimawandel, Terror und Gewalt leben wir in einer der sichersten und wohlhabendsten Regionen der Welt – und dennoch nehmen unsere Ängste zu.
Friedrich Nietzsche sah in dieser Verschiebung von außen nach innen eine Folge gehemmter Aggressionen, die in zivilisierten Gesellschaften nicht offen ausgelebt werden dürfen und sich deshalb gegen uns selbst richten. Er beschreibt den Menschen als ein „an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stoßendes Tier“, das an sich selbst leidet.
Michel Foucault ergänzt, dass moderne Disziplinargesellschaften eine innere Kontrollinstanz formen, die unsere Triebe und Affekte nach innen reguliert. Diese innere Gewalt erzeugt psychische Pein, etwa Gewissensangst – die Angst vor einem strafenden Über-Ich. Wird sie zu groß, führt sie zu Kontrollwahn und zwanghaftem Verhalten.
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Was tun gegen die Ohnmacht?
So wie die Verhaltenspsychologie empfehlen viele Philosophen die Konfrontation: Statt zu fliehen oder zu verdrängen, soll man die Angst aushalten und sich ihr stellen. Andere Experten, wie z. B. Thomas Fuchs, betonen (2) dagegen: Der Schlüssel liegt im Handeln – ob im Engagement für den Klimaschutz oder im kleinen Kreis, wenn wir uns für unsere Werte einsetzen. Selbstwirksamkeit sei das beste Mittel gegen die lähmende Angst. Vgl. Sprüche über Angst: (Darwin, Kant, Adler)
Im Philosophie-Magazin vom März 2025 wurden außerdem philosophische “Behandlungsmöglichkeiten” gegen die Ängste der Zeit aufgezählt (1, 3).
Sie alle scheinen mir:
nicht das tatsächliche Erleben pathogener Angst zu verstehen und darum
krankhafte Ängste mit Verhaltens- und Haltungsdirektiven zu beantworten, die ebenso wie eine schematisierte Psychotherapie am Wesentlichen vorbeigeht: dem Individuum und seinem spezifischen Erleben. Vgl. Kritik an der Psychotherapie
Beispiel: FOMO (Angst etwas zu verpassen)
So heißt es etwas zur Fear of Missing Out – der Angst, etwas Wichtiges oder Schönes zu verpassen: Nach Heidegger sei diese Angst ein Hinweis auf unsere Freiheit und Endlichkeit. Er rät, die Angst anzunehmen, sie als Anstoß zur Selbstreflexion zu nutzen und so aus der Überforderung zu einem bewussteren, authentischen Leben zu finden.
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Diese Sicht ist intellektuell reizvoll, aber verharmlost die belastende Wirkung der Angst. Für viele Betroffene bedeutet FOMO nicht ein intellektuelles Ringen um Sinn, sondern eine quälende, dauerhafte innere Unruhe.
Die Angst, ständig etwas zu verpassen, führt zu Stress, Schlafmangel und Erschöpfung – Zustände, die sicher nicht „gesund“ oder erstrebenswert sind. Die bloße Aufforderung, die Angst als „Spalt“ zur Wahrheit zu sehen, greift hier viel zu kurz.
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FOMO ist auch ein sozial-psychologisches Phänomen, das stark durch moderne Medien, gesellschaftlichen Druck und Vergleichskultur genährt wird.
Die Reduktion auf eine bloße metaphysische Erfahrung übersieht, wie sehr lebensweltliche Faktoren wie Social Media und Leistungsdruck die Angst verstärken.
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Die bloße Akzeptanz der Angst entlastet nicht und führt tlws. sogar in die Resignation, wenn sich keine Wege aus der Überforderung finden.
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Nicht jede Angst ist ein Zeichen von Tiefe oder Erkenntnis; manchmal ist sie schlicht ein Symptom von Überforderung oder Belastung, die menschliche Hilfe braucht.
Beispiel: Nomophobie (kein Handy-Zugang)
Ähnlich wird bei der “No-mobile-phone-phobia” argumentiert – der Angst, keinen Zugang mehr zum eigenen Smartphone zu haben. Etwa wenn der Akku leer ist oder kein Empfang besteht. Betroffene fühlen sich dann unruhig, panisch oder isoliert und möchten ihr Handy stets bei sich tragen.
Hier wird der Philosoph Byung-Chul Han empfohlen. Die Nomophobie sei demnach ein Bedürfnis nach Kontrolle über andere und die Welt. Er empfiehlt, echte, unvorhersehbare Begegnungen zuzulassen und sich dem Unkontrollierbaren zu öffnen, etwa durch das Annehmen unangekündigter Anrufe. So soll man wieder ein authentisches Weltverhältnis gewinnen und lebendige Beziehungen statt verdinglichter Kommunikation pflegen.
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Ich denke, es geht um andere essenzielle Bedürfnisse wie soziale Zugehörigkeit, Angst vor Isolation oder das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung.
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Han vergleicht das Smartphone mit Ersatzobjekten wie Kuscheltieren. Das Handy erfüllt aber komplexe soziale und kognitive Funktionen: Es ist Kommunikationsmittel, Wissensquelle und Identitätsplattform zugleich. Das geht weit über ein einfaches Trostobjekt hinaus.
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Han fordert, man solle sich dem Unvorhersehbaren und Unkontrollierbaren öffnen, etwa durch unangekündigte Anrufe. Das klingt zwar erstrebenswert, ignoriert aber, dass viele Menschen gerade durch das Smartphone einen Schutzraum schaffen, um soziale Interaktionen kontrollierter und weniger belastend zu gestalten.
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Ich halte wenig von normativen Ansätzen. Eine Aussage wie „Wir müssen ‚echte Beziehungen‘ pflegen“ ist zwar richtig, hilft aber nicht gegen die tief verwurzelte Angst und übergeht v.a. die Komplexität von Angststörungen.
Beispiel Höhenangst
Gegen die Höhenangst wird Nietzsche ins Feld geführt. Nietzsche sieht Höhenangst als Symbol für die Angst vor dem eigenen Wachstum und der eigenen Größe, die wir seiner Meinung nach viel zu oft verdrängen.
Seine Therapieempfehlung ist eine radikale Konfrontation: Stelle dich deinen Ängsten direkt und überwinde sie durch mutige Exposition, denn das stärkt und verwandelt dich. Vgl. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker?
Wer sich der Höhe stellt, gewinnt Klarheit, Stärke und eine existenzielle Erfahrung, die ihn im Leben weiterbringt – Vorsicht und Bodenständigkeit sind dabei hinderlich und müssten überwunden werden.
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Nietzsche unterschätzt die Komplexität von Ängsten. Nicht jede Angst ist eine bloße „Selbstverzwergung“ oder ein Hindernis für Wachstum; manche Ängste sind tief verwurzelte Schutzmechanismen.
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Zudem ist die radikale Expositionstherapie, die Nietzsche propagiert, nicht für alle geeignet. Psychische Belastungen, körperliche Voraussetzungen und individuelle Lebensumstände machen es vielen unmöglich, Ängste einfach „wegzutanzen“. Ein solcher Ansatz setzt Betroffene zusätzlich unter Druck und weckt Schuld- sowie Schamgefühle.
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Außerdem vernachlässigt Nietzsche soziale und kulturelle Faktoren, die Ängste prägen. Angst ist nicht nur eine individuelle Herausforderung, sondern mindestens ebenso ein Produkt von Umwelt, Erziehung und gesellschaftlichen Strukturen.
Beispiel: Sozialphobie
Die Soziale Phobie ist die Angst vor Bewertung oder Ablehnung in sozialen Situationen, die Betroffene oft vermeiden oder mit großer Anspannung erleben. Diese Angststörung wird mit Jean-Paul Sartre erklärt: Die Angst entstehe durch den objektivierenden „Blick des anderen“, der beschämt.
Um diese Angst zu überwinden, müsse der Fokus bewusst von sich weg nach außen gerichtet werden, um die Umgebung und andere wahrzunehmen und wieder als freies Subjekt ins Handeln zu kommen. Außerdem soll die Erkenntnis helfen, dass fast alle Menschen ähnliche Sorgen haben und daher oft weniger mit dem Urteil über andere beschäftigt sind, als man denkt.
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Die Sozialphobie besteht in Ängsten vor Ablehnung, Minderwertigkeit und sozialer Isolation, die sich nicht allein durch eine Rationalisierung überwinden lässt.
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Die Angst blockiert i.d.R. die Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen, und führt zu einem Teufelskreis aus Selbstbeobachtung und Rückzug. Die Behauptung, Gedanken würden automatisch entlasten, unterschätzt bei Weitem die individuelle Schwere und Leiblichkeit sozialer Ängste.
Fazit: Angstgefühle
Angst ist hochgradig individuell und situationsabhängig. Viele (heutige wie ältere) Philosophen neigen dazu, allgemeine Aussagen zu treffen, ohne ausreichend auf die Vielfalt der Ängste und deren unterschiedliche Ursachen und Verläufe einzugehen.
Die eigenen Prägungen und Erfahrungen der genannten Persönlichkeiten, welche immer in die Analysen einfließen, dürfen ebenso wenig übergangen werden. Entsprechend liefern diese Texte zwar wertvolle Impulse, aber keine allgemeingültigen Erklärungen oder Lösungen.
Außerdem sollten wir immer den Kontext philosophischer Aussagen berücksichtigen. Die genannten Herren konzentrieren sich auf westliche Gesellschaften und deren spezifische Ängste in einem bestimmten Milieu zu einer ganz bestimmten Zeit. Diese Konzepte einfach auf das Heute zu übertragen, ist anachronistisch und unwissenschaftlich.
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Quellen:
1) Moritz Rudolph und Theresa Schouwink: Ängste der Gegenwart, Überblick
2) Jana C. Claese: Interview Thomas Fuchs: „Ein angstfreies Leben wäre ein gleichgültiges Leben“
3) S. Flasspoehler: Das gefräßige Tier







