Was sind Gefühle? – Phänomenologie: Emotionen als Seinsweise
Gefühle sind bedeutend. Sie prägen Handlungen, Gedanken und Einstellungen weit mehr, als wir denken. Doch was Gefühle sind, weiß eigentlich niemand genau. Klar ist nur, Emotionen durchdringen mein gesamtes Dasein. In der philosophischen Phänomenologie gilt: Als grundlegender Aspekt meiner menschlichen Existenz können Gefühle mich mit der Welt verbinden oder entfremden.
Gefühle schaffen Bedeutung
Gefühle oder Stimmungen befinden sich nicht in einem abgekapselten Innenraum. Sie sind auch keine marginalen Prozesse oder Begleiterscheinungen biologischer Vorgänge, sondern essenzielle Elemente meines individuellen Seins.
Was auch immer ich als Mensch erlebe, tue oder wahrnehme, wird nicht von Gefühlen eingefärbt, sondern erfolgt im und durch das Fühlen.
Phänomenologisch gesehen sind Gefühle keine objektiven Eigenschaften der Welt, sondern sie entstehen in der Interaktion des Individuums mit der Umwelt und sind von dessen jeweiligem Horizont geprägt.
Emotionalität bzw. Affektivität ist das, was den Dingen in der Welt und mir selbst Bedeutung, Wert, Qualität und Essenz verleiht.
Wenn jemand Freude, Trauer oder Wut empfindet, ist das nicht nur eine individuelle Reaktion auf äußere Umstände; es ist auch eine Art, wie dieser jemand in diesem Moment in der Welt verankert ist.
Allg. Definitionen in der Psychologie
Emotionen – Gefühle – Stimmungen
In der Psychologie werden Emotionen / Affekte als intensive, kurzfristige Reaktionen auf spezifische Reize oder Ereignisse
von Gefühlen unterschieden, welche subjektive Erfahrungen in Folge von Emotionen sind und länger anhalten.
Stimmungen werden als diffuse, langfristige emotionale Zustände definiert, die keine bestimmten Auslöser haben und unsere allgemeine Weltsicht beeinflussen.
Zusammengefasst beeinflussen Emotionen (kurzfristig) unsere direkte Reaktion, Gefühle (langfristig) unsere Wahrnehmung und Stimmungen (diffus) unsere allgemeine Verfassung.
Die Komplexität von Emotionen
Nach phänomenologischer Perspektive ist diese Einteilung konstruiert. Denn all die genannten Prozesse sind komplex. Lassen sich diese Zustände so trennscharf einteilen?
Schließlich haben nicht nur Emotionen Einfluss auf Verhalten und Wahrnehmung, sondern auch Gefühle und Stimmungen.
Zudem sind Stimmungen keineswegs langfristig oder frei von Auslösern, sondern können abrupt wechseln und als direkte Reaktion auf die Umwelt erfolgen.
Darüber hinaus ist die Definition zirkulär: Gefühle können sowohl als Folge von Emotionen als auch in ihrem Einfluss auf unsere langfristige Wahrnehmung verstanden werden.
Diese und viele weitere Einwände zeigen, dass die allgemeine Einteilung von Emotionen und ähnlichen Phänomenen den vielschichtigen Zusammenhängen, die das menschliche Erleben beeinflussen, nicht gerecht wird.
Ich werde daher die Begriffe in diesem Text als Synonyme nutzen, so wie wir es auch umgangssprachlich handhaben.
Gefühle als handlungsorientierte Prozesse
Keine Handlung oder Entscheidung ist völlig losgelöst von Gefühlen. Keine menschliche Erfahrung lässt sich ohne affektive Komponenten denken. Emotionen sind also nicht nur Begleiterscheinungen, sondern treiben mein Verhalten an oder hemmen es. Das macht Gefühle zu handlungsorientierten Prozessen.
Stimmungen und Emotionen so zu verstehen, ist zunächst einmal ungewöhnlich. In der alten Philosophie und anderen Wissenschaften wurden Gefühle lange Zeit passiv charakterisiert. Im Allgemeinen gelten affektive Phänomene noch heute als eine spezielle Art mentaler Zustände, die strikt von Handlungen abgegrenzt werden.
Dieser unbewusst vorausgesetzten Deutung begegnet die Phänomenologie mit Skepsis und zeigt, dass Emotionen keine passiven Phänomene sind. Im Gegenteil: Gefühle prägen nicht einfach Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen, sie sind auch eine aktive Form des Weltzugriffs.
In den Worten von Fuchs: „Gefühle sind dynamische Kräfte, die uns motivieren und bewegen, sie induzieren Bewegungstendenzen nach vorn, hinten, oben, unten oder in anderer Weise. Gefühle sind insofern primär verkörperte Handlungsmotivationen.“
Beispiel: Stell dir vor, du bist Zeuge einer Ungerechtigkeit, beispielsweise in einer Diskussion, in der jemand herabgesetzt wird. Deine aufkeimende Wut regt dich dazu an, aktiv zu handeln bzw. zu interagieren. Gleichzeitig verspürst du einen Bewegungsdrang, meist nach vorn auf das Wutobjekt zu.
Hier wird deutlich, dass Wut nicht nur eine passive Emotion ist, sondern eine Triebkraft, die dich dazu bringen kann, deine Werte und Überzeugungen in die Tat umzusetzen.
Gefühle als menschliche Seinsweise
Gefühle besitzen einen qualitativen Kern, der Spektren von Möglichkeitsräumen und möglichen Handlungsoptionen erschließen oder verschließen kann. Gefühle bzw. Stimmungen sind wie eine Einstimmung von Selbst und Welt auf eine gemeinsame Basis.
Je nach affektiver Gestimmtheit habe ich andere Optionen vor Augen, was geschehen kann, wozu ich fähig bin und welche Bedeutungen sich mir eröffnen.
Die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, die ein Mensch zum Beispiel in der Angst wahrnimmt, sind ganz andere als diejenigen, die jemand in einer fröhlichen Verfassung erkennt.
Die menschliche Lebenswirklichkeit ist also nicht statisch, sondern befindet sich in einem ständigen Fluss der Veränderung. Vor allem Gefühle und Emotionen treiben diese Veränderungen voran und modulieren das Verhältnis, die Wahrnehmung und die Deutung der Welt.
Leiblichkeit als Resonanzraum des Fühlens
Es gibt keine Gefühle außerhalb des Leiblichen und keinen Leib ohne Gefühle. Die Leiblichkeit bildet den Resonanzraum für Gefühle und Stimmungen, Atmosphären und Ambiente: Ich kann vor lauter Lachen oder tiefer Traurigkeit weinen. Ich zittere, habe weiche Knie und bin angespannt, wenn ich Angst verspüre. Schäme ich mich, dann erröte ich unwillkürlich, senke den Blick und will sofort unsichtbar werden.
Wenn die Leiblichkeit eine Bedingung dafür ist, Dinge, Räume und Gefühle in ihren Bedeutungen zu erfahren, dann lassen Stimmungen einen Menschen zu bestimmten Beurteilungen, Gedanken, Körperempfindungen und Verhaltensmustern tendieren.
Ich lasse Emotionen nicht passiv über mich ergehen, sondern bin durch das emotionale Erleben bereits zu einer Aktion oder Reaktion aufgefordert. Ein Mensch nimmt immer aktiv handelnd auf die Welt Bezug.
Auf andere Art formuliert: Der Leib bewegt sich nicht, weil ihn physikalische Kräfte dazu zwingen. Vielmehr weil ich als leib-seelische Ganzheit Bedürfnisse, Vorstellungen und Interessen in dieser Welt habe.
Fazit: Was sind Gefühle?
Gefühle spielen eine tragende Rolle im menschlichen Erleben. Und sie haben wesentlichen Einfluss darauf, mir allgemeine Handlungsspielräume zu eröffnen oder zu verschließen.
Emotionen bilden eine treibende Energie: Sie verleihen meinem Streben und Handeln eine Bedeutung, geben ihnen eine Richtung und beeinflussen, ob ich überhaupt bereit bin, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht.
Gefühle befähigen mich zu Engagement, Zielstrebigkeit und Aktivität. Gleichzeitig sind sie nicht statische Gebilde, so wie ein Stein oder ein Baum. Sie sind vielmehr dynamische Vorgänge, die sich im Kontakt mit der Umwelt entfalten, verändern und entwickeln.
Dieser Text ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch: Depressionen erleben