Eigenverantwortlich leben und sterben
Text-Ausschnitt aus “Meine behinderte Zukunft” von Rebecca Maskos für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de – Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE
Besonders brisant wird die Eigenverantwortung, wenn es um den beeinträchtigten und alternden Körper geht. Wenn sich die Individualisierung der Gesellschaft derart zuspitzt, dass wir nicht nur zu Beginn des Lebens, sondern auch am Ende Verantwortung übernehmen sollen. Wenn wir also alle aufgerufen sind, für unseren sozialverträglichen Tod selbst Sorge zu tragen – eigenverantwortlich zu handeln, im Leben wie im Sterben.[15]
15 Vgl. Stefanie Graefe, Autonomie am Lebensende. Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe, Frankfurt/M.–New York 2007, S. 270ff.
Klingt zynisch? Ist es leider nicht.
Der Blick ins Nachbarland Niederlande ist besorgniserregend: Es ist dort mittlerweile üblich geworden, nicht eines natürlichen Todes zu sterben, sondern durch ärztliche Hand – selbst gewählt und frei verantwortlich entschieden. Seit über zwanzig Jahren ist die „Euthanasie“, wie es in den Niederlanden ganz offen heißt, erlaubt: „Euthanasie“ ist altgriechisch und steht für „schöner Tod“.
Als „Euthanasie“ wurde gleichwohl auch das nationalsozialistische Programm zur massenhaften Tötung behinderter und psychisch beeinträchtigter Menschen bezeichnet, dem rund 300.000 Menschen mit Behinderungen zum Opfer fielen.
In Deutschland nennt man das Verabreichen tödlicher Substanzen durch ärztliches Personal deshalb nur ungern bei diesem historisch belasteten Namen und spricht stattdessen eher von „aktiver Sterbehilfe“.
Was in den Niederlanden zunächst nur für schwer kranke Menschen in der Sterbephase gedacht war, hat sich über die Jahre immer mehr ausgeweitet.[16]
16 Vgl. „Das Angebot hat die Nachfrage erzeugt“, Interview mit Theo Boer, 26.2.2020, Externer Link: https://www.deutschlandfunkkultur.de/gesundheitsethiker-zur-sterbehilfe-das-angebot-hat-die-100.html
Mittlerweile gilt das Kriterium des „unerträglichen Leidens", unabhängig von Alter und Schwere der Erkrankung.
Doch was heißt das genau, „unerträgliches Leiden“?
Die Definition hängt stark von persönlichen Bedeutungszuschreibungen und ärztlichen Einschätzungen ab, oft von Hausärzt*innen. In den Niederlanden nehmen sich mit ihrer Hilfe inzwischen vierzigjährige Suchtkranke oder junge Depressive das Leben. Oft werden die Beweggründe für die aktive Sterbehilfe erst im Nachhinein geprüft; etwa, ob man nicht auch die Medikation oder die Lebensumstände hätte verbessern können. Die aktive Tötung „schwer beeinträchtigter“ Säuglinge durch Ärzt*innen ist bereits seit 2005 straffrei, inzwischen darf auch für Kinder unter zwölf Jahren die „Euthanasie“ beantragt werden.
Mit einem Anteil von rund 10.000 Fällen pro Jahr und über fünf Prozent aller Sterbefälle ist die „Euthanasie“ in den Niederlanden inzwischen zu einer akzeptierten und normalen Form des Sterbens geworden.
Krebskranke und anderen Menschen mit schweren Beeinträchtigungen müssen sich dort fragen lassen, warum sie denn keine „Euthanasie“ genutzt haben. Inzwischen schmeißen ehemalige „Euthanasie“-Gutachter hin und sagen, die Situation sei „außer Kontrolle geraten“.[17]
17 Merle Schmalenbach, Die Lebensmüden, 16.2.2018, Externer Link:https://www.zeit.de/2018/08/aktive-sterbehilfe-niederlande-selbstbestimmung-kritik
Laut einer repräsentativen Befragung des niederländischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2020 wollen rund 10.000 aller Niederländer*innen über 55 Jahren ihr Leben frühzeitig beenden – auch wenn sie nicht ernsthaft erkrankt sind.
Als Gründe werden vielmehr
Einsamkeit genannt (über die Hälfte der Befragten),
Geldsorgen,
und die Angst, anderen zur Last zu fallen (jeweils rund ein Drittel).
Rund die Hälfte derjenigen, die mit dem Gedanken an ein frühes Lebensende spielen, hat einen niedrigen sozioökonomischen Status und fühlte sich einsam.
„Mit diesen Ergebnissen ist das Bild vom autonomen, hochgebildeten und finanziell abgesicherten Menschen, der den Tod in einem freien Akt der Selbstbestimmung wählt, deutlich ramponiert“
kommentiert die Wissenschaftsjournalistin Susanne Kummer.[18]
18 Vgl. Susanne Kummer, Beim Sterben nachhelfen?, in: Imago Hominis: Quartalschrift des Instituts für medizinische Anthropologie und Bioethik 1/2020, S. 6–10, Zitat S. 6.
Auch aus Kanada gibt es verstörende Nachrichten:
Seit 2016 ist dort „Medical Assistance in Dying“ (MAiD) erlaubt. Die ersten gesetzlichen Regelungen dazu bezogen sich, wie in den Niederlanden, auf Menschen, deren Tod bereits absehbar war.
Doch die Grenzen wurden immer weiter aufgeweicht. Seit 2021 können nun auch Menschen Sterbehilfe in Anspruch nehmen, die eine „schwerwiegende“ und „unheilbare“ Behinderung oder Krankheit haben, die aber nicht lebensbedrohlich sein muss. Das könnte man über meine Beeinträchtigung beispielsweise auch sagen. Kanadische Menschenrechtsgruppen und Interessenvertretungen behinderter Menschen sprechen von einem alarmierenden Trend:
Behinderte Menschen beantragen Sterbehilfe, weil sie arm sind, keine Assistenz oder barrierefreien Wohnraum bekommen.[19]
19 Vgl. Holly Honderich, Who Can Die? Canada Wrestles With Euthanasia for the Mentally Ill, 14.1.2023, Externer Link:https://www.bbc.com/news/world-us-canada-64004329.
Außerdem darf das Gesundheitspersonal in Kanada Sterbehilfe proaktiv als Option ins Gespräch bringen, wenn es behinderten Menschen wegen ihrer sozialen Lebensumstände schlecht geht.
Bekannt wurde das Beispiel von Roger Foley, der im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt keine ambulante Pflege bekam und deshalb im Krankenhaus festsaß. Gespräche mit dem Gesundheitspersonal dokumentierte er auf Tonband.
Der Ethikbeauftragte rechnete ihm vor, wie teuer sein Aufenthalt im Krankenhaus sei und schlug ihm Sterbehilfe vor. Das staatliche kanadische Gesundheitssystem bietet vielfach nur ein Minimum an Versorgung, die Wartezeiten auf Facharzttermine sind lang.
Und dennoch kostet das Gesundheitssystem den kanadischen Staat viel Geld. Bei der Einführung der Sterbehilfe wurde daher auch das damit verbundene Einsparpotential ins Feld geführt.[20]
20 Vgl. Lukas Laureck, Sterbehilfe in Kanada: Fremdbestimmt sterben, in: Katapult 31/2023, S. 26–33.
Nach der Schweiz, Australien, Neuseeland, Kolumbien, Portugal, Spanien und Österreich hat im Februar 2020 auch Deutschland eine Form der Sterbehilfe erlaubt: den assistierten Suizid.
Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat nun jede*r das Recht auf einen selbstbestimmten Tod, und auch darauf, sich dabei helfen zu lassen – sofern man sich frei dazu entscheidet. Ausdrücklich betont hat das Gericht, dass dies davon unabhängig sein soll, ob man jung oder alt, gesund oder krank ist.
Die Freiverantwortlichkeit soll durch ein ärztliches Gutachten festgestellt werden. Doch wer diese Gutachten ausstellen darf, ist derzeit noch ungeregelt. Keiner der Gesetzesvorschläge dazu, etwa zu vorgeschriebenen Bedenkzeiten und verpflichtender Beratung, fand 2023 eine Mehrheit im Bundestag.
Es gibt auch keine genauen Datenerhebung – so kann man hierzulande noch nicht absehen, wie sich diese Liberalisierung auswirken wird.
Deutlich wird jedoch bereits jetzt ein Anstieg der Anträge, auch jenseits von fortgeschrittenen, schweren Erkrankungen – trotz palliativmedizinischer Angebote für ein würdevolles Lebensende, etwa in Hospizen.[21]
21 Vgl. Benno Schäffer et al., Assistierte Suizide in München – Eine Analyse vorliegender Gutachten, in: Rechtsmedizin 6/2024, S. 395–401.
Text-Ausschnitt aus “Meine behinderte Zukunft” von Rebecca Maskos für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de – Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE