Leibniz – Die Reisen des Genies

Mobilität ist eine der Grundsäulen unserer Lebensform. Wenn man historische Megatrends wie die „Völkerwanderungen“ Mitte des ersten Jahrtausends, eine Frühform der Migration, mal außer Acht lässt und sich beim Thema Mobilität auf das temporäre Reisen beschränkt, so erkennt man, dass es seit Mitte des 20. Jahrhunderts für das Leben der breiten Masse an Bedeutung gewinnt.

Zum einen deshalb, weil die technischen Voraussetzungen gegeben waren (Verkehrsinfrastruktur zu Land, zu Wasser und in der Luft), zum anderen aber auch die sozialen: Der stetig wachsende Anteil an Freizeit schaffte den nötigen Raum zum Reisen. Seit den 1970ern verstärkte sich der Trend Dank einer neuen Tourismusindustrie und immer mehr Urlaubstagen. Selbst einfache Arbeiter und Angestellte reisten jetzt regelmäßig nach Spanien oder Italien, für den gehobenen Dienst standen Fernreisen auf dem Programm – Florida, Dominikanische Republik, Malediven, Thailand, Bali.

Reisen ist heute meist komfortabel, schnell und sicher. Vor 300 Jahren (und davor) war es beschwerlich. Dennoch ließen sich einige mobile Menschen auch durch die Strapazen einer tagelangen Kutschfahrt nicht vom Reisen abhalten, zumal, wenn es beruflich geboten war. Ein besonders herausragendes Beispiel eines barocken business travellers gibt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der ständig in Deutschland und ganz Europa unterwegs war, zwischen diplomatischer Mission und wissenschaftlichem Austausch.

Leibniz war ein recht eigenwilliger Mitarbeiter am Hof des welfischen Herzogs Johann Friedrich in Hannover. Eigentlich Leiter der dortigen Bibliothek und Historiograph, beschäftigt er sich mit allem anderen. Zum Glück. Denn nur so entwickelt er den Binärcode (ohne den – oh, Schreck! – es kein Smartphone gäbe), nur so kommt ihm der Gedanke des Infinitessimalen in der Mathematik, auf dem Differential- und Integralrechnung basieren, ohne die wir weder Strom noch Raumfahrt hätten. Und auch seine Reiseaktivitäten deckten sich nur zum Teil mit der Stellenbeschreibung. Sein eigentlicher Arbeitsauftrag, das Verfassen einer Geschichte des Welfengeschlechts, litt unter der Umtriebigkeit Leibnizens, doch konnte er seinem Chef immerhin vermitteln, die (nur zum Teil im Vorfeld genehmigten) Dienstreisen seien irgendwie notwendig für die Recherche, denn schließlich ging es darum, die europäische Dimension des Herrscherhauses nachzuweisen, um dessen Bedeutung aufzuwerten, was letztlich auch gelang: 1692 erfolgte die ersehnte Verleihung der Kurwürde an Hannover.

Recherche hin und her – eigentlich entfloh der große Geist mit jeder sich bietenden Kutsche nur allzu gern dem provinziellen niedersächsischen Nest. Auf seinen Reisen wurde Leibniz mit den führenden Köpfen der europäischen Wissenschaft bekannt, was zum einen seinen Kontakt zur Gelehrtenrepublik herstellte und vertiefte, zum anderen seine philosophische und mathematisch-naturwissenschaftliche Arbeit beflügelte, die eben um einiges spannender war als der Alltagstrott in Hannover. Durch seine Mobilität war er an vielen Stätten des Kontinents, an denen das wissenschaftliche Leben seiner Zeit pulsierte, persönlich zugegen.

Auf den zahlreichen Reisen bekamen die unterschiedlichen Interessengebiete des Genius immer wieder neue Anregung. Der Austausch war Quelle der Inspiration, und wenn Leibniz nicht reiste, reisen konnte, reisen durfte, schrieb er Briefe, um den Kontakt aufrecht zu erhalten (Leibniz hatte mehr als 1.100 Korrespondenzpartner in aller Welt). Doch wenn möglich, suchte er die persönliche Begegnung.

Man kann in seinem bewegten Leben zwei Reisephasen unterscheiden: zum einen die Reisen in den Jahren 1672-76 nach Paris, London und Den Haag, zum anderen die Reisen 1687-90, die ihn unter anderem nach Italien führten.

 

Erste Reisephase (1672-76)

1672 reist Leibniz nach Paris, um Ludwig XIV. seinen Plan eines Feldzugs der Franzosen gegen Ägypten zu unterbreiten, um die schwelende Türkengefahr für Europa zu bannen und zugleich ein Ende der französischen Eroberungskriege in Europa zu erwirken, die einem Expansionsdrang geschuldet waren, der über kurz oder lang, davon war Leibniz überzeugt, auch Deutschland treffen würde. Mit Ludwig stand Leibniz schon in Briefkontakt. Ein Jahr zuvor hatte Leibniz dem Sonnenkönig bereits zum Bau eines Kanals zwischen Mittelmeer und Rotem Meer geraten, einen Plan, den Ludwig ebenso wenig zu realisieren gewillt war wie eine militärische Besetzung Ägyptens, die erst viel später, 1798 nämlich, unter Napoleon Bonaparte erfolgte, der im übrigen wohl keine Kenntnis von Leibnizens Entwurf hatte. Und der Kanal wurde später auch gebaut und 1869 eingeweiht: der Suez-Kanal.

Anlässlich einer Reise nach London im Jahre 1673 wurde Leibniz, der bereits 1669 auswärtiges Mitglied der Pariser Académie des Sciences geworden war, auf Empfehlung ihres Sekretärs Henry Oldenburg in die Royal Society, die Londoner Akademie der Wissenschaften, aufgenommen – trotz Bedenken von Mathematikern wie Pell oder Newton, mit dem Leibniz an seinem Lebensabend einen sehr unschönen Streit um die Urheberschaft an der Infinitesimalrechnung austragen sollte. In London machte Leibniz außerdem Bekanntschaft mit dem Chemiker Robert Boyle und dem Physiker Robert Hooke. Diese Treffen zeigen dem jungen Leibniz, das er in Sachen Mathe und Physik nicht auf der Höhe der Zeit war. Reisen bildet.

Auf der Rückkehr von einer weiteren Londonreise im Jahre 1676, auf der Leibniz dann – das ist verbrieft – Einsicht nimmt in Newtons Arbeiten, besucht er Antoni van Leeuwenhoek und Baruch Spinoza in den Niederlanden.

Van Leeuwenhoek lässt Leibniz durch sein 1671 – also gerade erst – gebautes Mikroskop gucken. Leibniz sieht, dass ein Wassertropfen viel, viel mehr Leben ins sich trägt als mit bloßem Auge erkennbar ist. Dem Auge erscheint Wasser leblos und rein, das Mikroskop zeigt eine kleine Welt mit vielen komischen Einzellern und allerlei Gewimmel. Ein Universum für sich. Das führt Leibniz zu dem Kerngedanken seiner Monadologie: das Ganze ist in seiner Vielfalt repräsentiert im Einzelnen, das Einzelne – jeder Mensch zum Beispiel – trägt Spuren des Ganzen – des Universums – in sich. Alles steht daher in Kontinuität zueinander, alles gehört zusammen, bildet – in seiner Vielfalt – eine Einheit.

Bei dem Treffen mit Spinoza in Den Haag geht es um den Substanzbegriff. Das Wesen der Substanz und damit die metaphysische Bedingung, um von einer Substanz sprechen zu können, liegt für Leibniz in der Aktivität, für Spinoza in der Unabhängigkeit. Die beiden großen Metaphysiker, die zugleich die letzten sind, die den ganz großen Weltentwurf wagen, setzen sich dabei über das Kernthema der Metaphysik auseinander: Einheit und Vielfalt.

Für Spinoza gibt es nur eine Substanz: Gott, denn nur Gott ist unabhängig. Für Leibniz hingegen gibt es viele Substanzen. Für ihn sind Einzeldinge oder einzelne Seelen nicht nur Akzidenzien, also Attribute der einen Substanz, sondern sie sind selbst substantiell, denn sie sind oder bestehen aus Monaden, und Monaden sind Substanzen. Anders gesagt: Während Spinoza in seiner Weltsicht zur Einheit tendiert, zu einem Pantheismus, bei dem die Vorstellung einer Durchdringung allen Seins mit Gottes Geist zu einem Aufgehobensein in Gott führt, das einem Verschwinden des Seienden gleich kommt, so setzt Leibniz in der Monadologie auf die Vielheit, auf die Individualität des Seienden, die gleichwohl in nur gradueller, nicht prinzipieller Unterschiedlichkeit zum Sein Gottes steht und von daher – in dieser Zusammengehörigkeit – eine Einheit bildet. Bei Spinoza beherrscht also der Gedanke der Konformität die Welt, bei Leibniz ist es die Idee der Kontinuität, ein Gedanke, der schon seiner Infinitesimalrechnung zugrunde lag.

 

Zweite Reisephase (1687-90)

In diesen drei Jahren reist Leibniz zum Quellenstudien durch Deutschland und nach Italien. In Rom macht er dabei 1687 die Bekanntschaft des Missionars Grimaldi, der Leibniz über die Philosophie der Chinesen unterrichtet, was insbesondere hinsichtlich der Vernunftethik der Frühaufklärung Wirkung entfaltete und ausgehend von Leibniz dessen Epigonen Christian Wolff beeinflusste.

Kurz vor seinem Tod schrieb Leibniz ein Werk, das leider unvollendet blieb: „Die Natürliche Theologie bei den Chinesen“. Auf der Grundlage weniger Textstellen des Konfuzius und des Neukonfuzianers Chu Hsi stellt Leibniz in dieser letzten philosophischen Abhandlung eine Verbindung zwischen den Grundprinzipien des Konfuzianismus und der christlichen Philosophie her, nachweisend, dass die drei großen Begriffe des Konfuzianismus: Li, das erste Prinzip des Universums, Ki, Urmaterie und materielle Schöpfung, und Shang ti, Herr des Himmels, dem christlichen Gottesbegriff sehr nahe kommen. Für die Entwicklung der Ethik war entscheidend, dass christliche Moralvorstellungen auf Konfuzius trafen und Leibniz, der Christ Leibniz, feststellte, dass es hier gemeinsame Spuren ethischer Rationalität gibt, die sich, mit etwas Empathie und Offenheit, nachweisen lassen. Reisen bildet.

1689 geht Leibniz ausnahmsweise einmal seiner eigentlichen Auftragsarbeit nach. Er besucht Neapel und begibt sich über Florenz und Bologna nach Modena, wo er die Verwandtschaft zwischen dem welfischen Fürstenhaus und den Herzögen von Este in Urkunden entdeckt. Leibniz sollte ja (eigentlich) die Geschichte des Welfengeschlechts schreiben, ein Projekt, das auch nach vier Jahrzehnten unvollendet bleibt. 1690 kehrt Leibniz über Venedig und Wien nach Hannover zurück.

Die Reisen des Gottfried Wilhelm Leibniz zeigen die große Bedeutung des grenzüberschreitenden geistigen und wissenschaftlichen Austausches. Leibniz hat wesentliche Elemente seines Werkes im Dialog mit Kollegen entwickelt beziehungsweise in Reaktion auf die Erfahrungen, die er im Kontakt mit diesen Kollegen gesammelt hatte. Das lässt sich zwar auch für andere Wissenschaftler seiner Zeit sagen, aber für Leibniz trifft es eben in besonderer Weise zu, betrachtet man nur seine umfänglichen Aktivitäten in Sachen Reisen und Korrespondenz. Und, ganz im Allgemeinen: Reisen bildet! Selten zuvor (oder auch danach) wird diese Erfahrung so deutlich wie im Fall des Arbeitsmigranten aus Hannover.


Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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