Gewissen, Glaube, Religion
Artikel 4 GG führt Gewissen, Glaube und Religion zusammen. Zu Recht, denn Glaubens- und Religionsfreiheit sind sehr eng mit der Gewissensfreiheit verbunden. Wir können den Konnex von Gewissen, Glaube und Religion demnach wie folgt bestimmen: Das Gewissen ist einerseits die Instanz, vor der sich der religiöse Glaube zu rechtfertigen hat, vor der seine Werte und Normen geprüft werden, andererseits haben diese wiederum eine große Bedeutung für die Begründung und Bildung des Gewissens.
Die enge Verzahnung von Glauben und Gewissen ist zwar nicht auf eine bestimmte Religion beschränkt, doch das Christentum stand im Rahmen der europäischen Verfassungsgeschichte für viele zentrale Konzepte Pate – auch für die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit als Verfassungsnorm.
Deutlich wird das daran, dass Religionsfreiheit nicht immer allgemein gewährt wurde, sondern nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) vor allem als „Religionszweiheit“ in Erscheinung trat, also als Freiheit, eine der beiden in Mitteleuropa vorherrschenden christlichen Konfessionen zu wählen – andere Bekenntnisse waren nicht erlaubt.
Toleranz kannte damals klare Grenzen, auch noch in der Frühaufklärung: Der englische Philosoph John Locke etwa ist der Meinung, dass die Achtung der Religionszugehörigkeit des Anderen zwar wichtig sei, der Respekt sich jedoch nicht auf Katholizismus und Atheismus erstrecken dürfe (so in Ein Brief über Toleranz (#Affiliate-Link/Anzeige) 1689; ähnlich in Vernünftigkeit des Christentums, 1695). Völlig auf den Kopf gestellt wurde das Prinzip der Religionsfreiheit am Ende der Aufklärung, als im Rahmen der Französischen Revolution (1789) das Christentum in Frankreich verboten wurde und man die Menschen stattdessen zwang, die Vernunft als „neue Gottheit“ anzubeten.
In allen freiheitlichen deutschen Verfassungen seit 1848 wird der Zusammenhang von Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit hergestellt. In der Paulskirchenverfassung (1849) trat er erstmals in Erscheinung:
„Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren“ (§ 144). Auch die Weimarer Reichsverfassung (1919) erkannte den Zusammenhang an: „Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt“ (Art. 135). In unserem Grundgesetz (1949) gibt es eine Norm, in der ausdrücklich von diesem Zusammenhang die Rede ist, besagter Artikel 4 nämlich, in dem allen Bürgern Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit garantiert wird (Absatz 1: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“, Absatz 2: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“)
Die Frage der Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der Religion ist und bleibt verfassungsrechtlich auch deshalb von größter Bedeutung, da sich andere Freiheitsrechte unmittelbar aus diesen Freiheiten ergeben – sowohl historisch als auch systematisch. Systematisch ist das klar: Die „Menschenwürde“ (Art. 1 GG), die „allgemeine Handlungsfreiheit“ (Art. 2 GG), die „Meinungsfreiheit“ (Art. 5 GG) und viele andere Freiheiten ließen sich nicht aufrechterhalten, wenn man die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der Religion abschaffte. Aber auch historisch zeigt sich die Kraft der drei „Fundamentalfreiheiten“ als „Freiheiten zur Freiheit“.
Der Staatsrechtler Georg Jellinek sieht in der Religionsfreiheit „das Ursprungsrecht der verfassungsmäßig gewährten Grundrechte“ (Jellinek 1895, 1) und selbst der Marxist Ernst Bloch meint: „Die Bedeutung der Glaubensfreiheit kann daran gemessen werden, dass in ihr der erste Keim zur Erklärung der übrigen Menschenrechte enthalten ist“ (Bloch 1975, 66 f.). Das bedeutet: Das Ringen um Freiheit war und ist zunächst und vor allem das Ringen um Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Das Gewissen ist dabei auch rechtlich der Schlüssel. Es ist, so Di Fabio im Anschluss an Luther, „höchste Autorität in Glaubensdingen“ (Di Fabio 2008, 18). Zugleich garantiere der Glaube, wie bereits in Kapitel 4 erwähnt, Gewissenhaftigkeit: „Wo der Glaube versandet, scheint aber auch das Gewissen an Wirkkraft zu verlieren“ (Di Fabio 2008, 10). Zudem erscheint Freiheit in der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit als positive Ausübungsfreiheit (Freiheit zu), nicht als negative Abstinenzfreiheit (Freiheit von). Die Freiheiten umfassen das Recht, ein Gewissen zu haben und ihm zu folgen, einen Glauben zu haben und ihn zu leben, eine Religion zu haben und sie rituell zu feiern.
Das Recht, dies alles nicht zu haben, bleibt davon freilich unberührt, aber dieses geht nicht so weit, verlangen zu können, dass auch der Andere nichts hat, was durch Ausübung und Gebrauch öffentlich bemerkbar wäre, dass er also auf den positiven Aspekt seines Rechts verzichtet.
„Dein Gewissensgebrauch gefällt mir nicht!“ ist eine legitime Haltung, aber keine, die schwerer wiegt als der Gewissensgebrauch selbst, der – so persönlich er in seiner Motivation sein mag – niemals nur im Privaten wirkt, wenn er denn ernst gemeint ist. Ähnliches gilt für Glaube und Religion: Die Entscheidung für einen positiven Freiheitsgebrauch zum Glauben und zur Religion ist etwas Persönliches, sie kann aber in der Folge nichts Privates bleiben, weil sie das Handeln des Menschen durchdringt, auch sein – im weitesten Sinne – politisches Handeln.
Zwar gehören Glaube und Gewissen zusammen, zwar zielt gerade der christliche Glaube in seiner moralischen Weiterung auf das Gewissen, so dass umgekehrt das Gewissen des Christen vom Glauben geprägt wird, zwar ist das freie Gewissen eine Voraussetzung für Glaubens- und Religionsfreiheit, doch weder der weltanschauliche Hintergrund noch der Gegenstand, um den es beim Gewissensgebrauch geht, sind auf Fragen des religiösen Glaubens beschränkt.
Der Säkularismus des modernen Verfassungsstaats erkennt im Gewissensvorbehalt aus Gründen des Glaubens nicht mehr den Anwendungsfall schlechthin, sondern nur noch einen möglichen. Daher erhält die Gewissensfreiheit, obgleich in ihrer Genese eng an Religion und Glauben gebunden, als Verfassungsfundamentalnorm einen Eigenwert. Jeder Mensch hat das Recht, auf sein Gewissen zu verweisen, gleich welcher Weltanschauung er sich zugehörig fühlt. Aus der Unhintergehbarkeit des Gewissens folgt der unbedingte Anspruch auf Achtung der Gewissensfreiheit.
Doch: Als solches Privatissimum muss sich der Gewissensgebrauch rechtfertigen, wenn er das Gemeinwohl gefährdet – und das tut er in der Regel, ganz unabhängig von seiner konkreten Gestalt. Das Subjekt entzieht sich der unmittelbaren Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Gewissensgebrauchs, die ihrerseits nicht nur mit dem Gefährdungsgrad für Andere, sondern auch mit der Ernsthaftigkeit der eigenen Gewissensnot zu tun hat.
Auch in verfassungsrechtlicher Perspektive geht es immer um den Ausgleich subjektivistischer und objektivistischer Ansprüche an den Begriff „Gewissen“. Di Fabio sieht im Gewissen „eine eigenwillige sittliche Steuerungsinstanz“, die „in jedem einzelnen Menschen zu finden“ sei (Di Fabio 2008, 10).
Die conscientia sei einerseits eine „kritische Begleiterin des agierenden Ichs“, die diesem „die Fähigkeit zur Selbstreflexion“ verleiht, andererseits speise sich diese Fähigkeit aus einer dem Subjekt äußerlich bleibenden objektiven Ordnung, sprich: „aus Regeln und Normen der sozialen Welt, aus Erziehung und Bildung“ (Di Fabio 2008, 18). Dieser Einfluss verhindert, dass das Gewissen in Beliebigkeit fällt. Er ermöglicht „die strukturelle Kopplung von Gesellschaft und Menschen“, also „von Staat und Bürgern“ (Di Fabio 2008, 18). Zu dieser objektiven Ordnung gehört auch die Religion.
Quellen:
» Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. (#Affiliate-Link/Anzeige) Frankfurt a. M. 1975.
» Udo Di Fabio: Gewissen, Glaube, Religion. (#Affiliate-Link/Anzeige) Wandelt sich die Religionsfreiheit? Berlin 2008.
» Georg Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. (#Affiliate-Link/Anzeige) Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte. München 1895.
» Josef Bordat: Das Gewissen (#Affiliate-Link/Anzeige)