Kritik am Bürgergeld – Studie: Das Unleben im Bürgergeldbezug

Eine neue Untersuchung zeigt, wie schwer Erwerbslosigkeit auf Betroffenen lastet und wie das Bürgergeld-System vieles verschlimmert. Gleichzeitig stellt sich die Frage, warum die Diskussion um das Bürgergeld so emotional geführt wird.

Wie geht es Menschen, die Bürgergeld beziehen?

Kritik am Bürgergeld

Ca. 2 Jahre nach der umstrittenen Reform des Bürgergeldes stehen nun deutliche Verschärfungen im Rahmen einer „Neuen Grundsicherung“ auf der Agenda der Koalition.

Bemerkenswert dabei: Eine umfassende wissenschaftliche Auswertung des Bürgergeldes gibt es nicht und die Stimmen der Menschen, die vom Bürgergeld leben, werden in der Diskussion konsequent ignoriert.

Um diese Lücke zu schließen, hat der gemeinnützige Verein Sanktionsfrei gemeinsam mit dem Umfrageinstitut Verian eine Umfrage unter 1.014 Bürgergeldbeziehenden durchgeführt. Die Ergebnisse bieten ein eindringliches Bild von Not, täglichem Verzicht, psychischer Belastung und eingeschränkten Zukunftsperspektiven auf dem Arbeitsmarkt. » Geld hilft gegen Armut.

Über die Hälfte der Eltern müssen regelmäßig auf Essen verzichten, damit ihre Kinder satt werden. Da läuft etwas grundlegend falsch. Statt das zu ändern, plant die Politik neue Verschärfungen beim Bürgergeld und diskutiert immer noch darüber, ob der Regelsatz zu hoch ist.", erklärt Helena Steinhaus, Vorstand von Sanktionsfrei.

Zusammen mit Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), und Thomas Wasilewski, einem Bürgergeldbeziehenden und Ehrenamtlichen bei der Tafel, präsentierte sie die Studie am 23. Juni 2025 bei einer Bundespressekonferenz.

  • » Helena Steinhaus, Claudia Cornelsen: Es braucht nicht viel (#Affiliate-Link/Anzeige), wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen 

 

3 wichtige Erkenntnisse aus der Umfrage

Für die Umfrage wurden 1.014 Bürgergeldbeziehende im Alter von 18 bis 67 Jahren befragt. Dank einer abschließenden soziodemografischen Gewichtung auf Grundlage amtlicher Statistiken sind die Daten geeignet, um Aussagen über die gesamte Gruppe der Bürgergeldbeziehenden in Deutschland zu treffen.

Vgl. Was ist Armut? (Philosophie): Und warum ist sie ein Problem?


1: Der Regelsatz deckt keine Grundbedürfnisse ab

Laut einer Mehrheit der Befragten (72 %) ist der monatliche Regelsatz von 563 € nicht genug, um ein humanes Leben zu führen. Viele grundlegende Bedürfnisse können damit überhaupt nicht erfüllt werden (was eigentlich gegen das Grundgesetz verstößt).

  • So berichten ca. 50 % der Betroffenen, nicht genug zu essen zu haben.

  • Besonders betroffen sind Familien: gute 54 % der Eltern verzichten auf Mahlzeiten, um ihren Kindern etwas zu essen zu geben.

  • Große Sorgen und Angst, obdachlos zu werden, haben gute 28 % der Befragten.

» Wie viel Armut ist normal? 


2: Kaum Hoffnung auf einen Job, um vom Bürgergeld wegzukommen

Der Wunsch, unabhängig vom Bürgergeld zu leben, ist bei vielen stark ausgeprägt: satte 74 % wünschen sich das. Allerdings sind nur wenige optimistisch, dass sie eine Stelle finden, die es ihnen ermöglicht, den Bürgergeldbezug zu beenden (26 %). Neben persönlichen und strukturellen Schwierigkeiten empfinden viele das Jobcenter nur eingeschränkt als hilfreich bei der Jobsuche.


3: Stigma und Scham sind weit verbreitet

Stigma und Scham empfinden viele der Befragten. Gerade mal 12 % fühlen sich der Gesellschaft zugehörig, und 42 % geben an, dass sie sich für den Bezug von Bürgergeld schämen. Zudem hat die Mehrheit der Befragten (72 %) Angst vor möglichen Verschärfungen beim Bürgergeld. Gerade die drohende Wiedereinführung eines kompletten Leistungsentzugs empfinden sie als reale Existenzgefährdung.

» Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft nennt sich Klassismus


 

Ein Betroffener berichtet

Thomas Wasilewski, der zusammen mit seiner Familie Bürgergeld bezieht, gibt erschreckende Einblicke in seinen Alltag:

„Unser Leben findet in ständiger Unsicherheit statt. Es reicht kaum für die nötigsten Nahrungsmittel und auch der Schulalltag ist dadurch für unsere Kinder besonders schwer.

Diese Stimme im Kopf ist immer präsent: Wie soll es morgen weitergehen? Das zerfrisst die Seele. Es ist unerträglich zu erleben, wie meine Söhne leiden, weil ihnen das Allernötigste fehlt.“ — Thomas Wasilewski

Vgl. Was Armut mit Kindern macht (Selbstbild & Kinderarmut)

Und Marcel Fratzscher vom DIW hob hervor: „Das Bürgergeld muss so ausgestaltet sein, dass es die Teilhabe aller betroffenen Menschen gewährleistet. Eine Kürzung der Leistungen ist kontraproduktiv, nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für Unternehmen, Gesellschaft und Sozialstaat, da dies die Arbeitsaufnahme erschweren und nicht verbessern würde. Politik und Wirtschaft müssen mehr und nicht weniger in Menschen mit Bürgergeld investieren.“ » Vgl. Teufelskreis der Armut

 

Sozialvereine fordern Regelsatzerhöhung

Sowie der Paritätische Wohlfahrtsverband, die AWO und viele andere Sozialverbände, fordert auch Sanktionsfrei, die Grundbedürfnisse des Menschen zu achten und geplante Verschärfungen auszusetzen. Zudem braucht es:

  1. einen bedarfsgerechten Regelsatz von 813 €

  2. Abschaffung von Leistungsminderungen (Sanktionen)

  3. Fokus auf Qualifizierung und Weiterbildung anstatt Arbeitsvermittlung um jeden Preis.

 

Anstatt ständig über eine mangelnde Arbeitsbereitschaft zu schimpfen, sollte vielmehr die Frage aufgeworfen werden, ob es für Personen im Bürgergeld überhaupt genügend Stellen gibt, die ihren Bedürfnissen gerecht werden.

 

Faktenfuchs: Bürgergeldempfänger als Feindbild?

Die deutsche Geschichte ist voll von Diskussionen über arbeitsuchende und arbeitslose Menschen. Wer ein wenig recherchiert, findet von 1978 bis 2001 laut Politikwissenschaftlern 4 große Debatten über die angebliche „Faulheit“ von Sozialhilfeempfängern statt. Vgl. » Klassismus in Deutschland

Hinzukommen regelmäßige Falschaussagen und Fehlinformationen, die immer wieder gestreut werden und viele Menschen erreichen. Doch warum kochen die Emotionen beim Thema „Bürgergeld“ immer wieder hoch? Warum werden viele Menschen so wütend auf diejenigen, die Bürgergeld erhalten?


Verletztes Gerechtigkeitsgefühl

Das hängt mit dem Gerechtigkeitsgefühl zusammen, erklärt der Sozialpsychologe Andreas Hövermann vom WSI der Hans-Böckler-Stiftung im Faktenfuchs. Viele Menschen fühlten sich ungerecht behandelt. Besonders diejenigen, die jeden Tag hart arbeiten und das Gefühl haben, nicht genug zu verdienen, neigen dazu, das Bild des „faulen“ Bürgergeldbeziehenden zu übernehmen. » Arme Menschen


Große Abstiegsangst

Ein weiterer Faktor, der die Verbreitung von Falschinformationen über das Bürgergeld befeuert, ist die Angst vor sozialem Abstieg, d. h. einer schlechteren Lebensqualität. Nicht nur armutsgefährdete Menschen, sondern auch gut die Hälfte der sozialen Mitte fühlt sich derzeit vom wirtschaftlichen Abstieg bedroht.

Übrigens war das laut Experten auch 1975, 1981 und 1993 der Fall – und das jedes Mal im Kontext einer schrumpfenden Wirtschaft und einem Anstieg der Arbeitslosenquote.


Ökonomisiertes Denken

Allerdings gibt noch eine weitere grundlegende Erklärung, warum Menschen Falschinformationen über Sozialhilfeempfänger Glauben schenken. Der Sozialpsychologe Andreas Hövermann hat mehrere Studien dazu durchgeführt. Die Ergebnisse: In Deutschland sind Einstellungen und Werte verbreitet, die Menschen nach ökonomischen Kriterien bewerten. Viele Menschen beurteilen andere Personen danach, ob sie „nützlich“, „profitabel“ oder „effizient“ sind.

» Selbstoptimierungswahn sowie Pathologisierung & Medikalisierung

Der Grundgedanke: Wer es nicht selbst geschafft hat oder finanziell schlecht gestellt ist, trägt selbst Schuld und hätte seine Chance nicht genutzt. Nach dieser Logik lassen sich ganze Gruppen in der Bevölkerung als „unprofitabel“ darstellen, die gar keine Unterstützung verdienen. » Sozialer Aufstieg durch Bildung (Die Opfer des "Erfolgs)

Naiv wird die gesamte Verantwortung "also ausdrücklich den Einzelnen zugeschoben, womit man sich von Solidarität und letztlich auch von Mitgefühl lossagen kann", erklärt Hövermann. » Kinderarmut: Bildung bietet keinen Schutz

 

Wer wirklich vom Bürgergeld-Bashing profitiert

Spaltung und Hetze, also das Denken in Wir-und-Die, sind Ziele bestimmter Akteure im politischen Bereich. Am meisten profitieren Extremismus und Populismus. Ein konkretes Beispiel sind russische Medien, die gegen Ukrainer in Deutschland aufhetzen möchten, um die Unterstützung für die Ukraine zu schwächen. Doch auch die AFD wirbt mithilfe falscher Infos über Bürgergeld-Empfänger für Inhalte wie Rassismus und Staatsfeindlichkeit.

Hövermann meint, die Debatte um das Bürgergeld dient der AFD dazu, emotionalen Zuspruch zu gewinnen, insbesondere in bürgerlichen Kreisen.

 

Fazit: Kritik am Bürgergeld

Die neue Umfrage macht wieder einmal deutlich, wie massiv Menschen, die auf Bürgergeld angewiesen sind, unter Druck stehen. Der Regelbedarf reicht bei Weitem nicht, um ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Während die Politik neue Verschärfungen plant, werden die realen Sorgen und Nöte der Betroffenen ignoriert. Gleichzeitig beweisen die emotional-geführten Debatten rund um das Thema, dass unter dieser Diskussionskultur unsere Gesellschaft als Ganzes leidet.

Wenn wir also weiterhin ein Klima der Stigmatisierung und des Misstrauens fördern, schaden wir nicht nur den Einzelnen, sondern untergraben auch den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

  • Buchtipp » Steinhaus, Cornelsen: Es braucht nicht viel (#Affiliate-Link/Anzeige): Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen 


Dieser Artikel erschien im Rahmen meiner Arbeit bei der Kinder- und Jugendhilfsorganisation Deutsche Lebensbrücke

Quellen:

1) Studie von Sanktionsfrei » hier klicken
2) Fabian Dilger: #Faktenfuchs: Die ewige Debatte um das Bürgergeld
3) Sophie Morár: Bürgergeld-Studie: Leistung reicht oft nicht zum Sattwerden

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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