Für Freiheit und Würde. Das bedingungslose Grundeinkommen und die kulturelle Demokratie

Unser Wirtschaftssystem steht insoweit in Frage, als ein Zehntel der Bevölkerung daran keinen Anteil hat. Die radikale Veränderung von Deutungsmustern könnte helfen.

Wir sollen mehr und länger arbeiten.

Zumindest nach dem Willen derer, die momentan in Deutschland regieren. Seit einigen Jahren sind sozialphilosophische Modelle für eine Neudefinition der Arbeit im Sinne komplexer Beschäftigungsformen in der Diskussion, die das Gegenteil nahelegen.

André Gorz hat in diesem Sinne einen konkreten Vorschlag zur Umsetzung einer radikalen Verkürzung der individuellen Arbeitszeit gemacht und sich für eine „allmählich bis auf 1000 Stunden pro Jahr fortschreitende Arbeitszeitverkürzung“[1] ausgesprochen.

André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft. (#Affiliate-Link)

Diese Einführung eines 1000-Stunden-Jahres läuft auf einen 4-Stunden-Tag bzw. eine 20-Stunden-Woche und damit auf eine Teilung des Arbeitsplatzes hinaus. Arbeit wird auf diese Weise im Sinne eines sozialegalitaristischen Ansatzes gerechter verteilt, Arbeitszeitverkürzung schafft zudem „noch nie dagewesene Freiheitsmöglichkeiten“[2].

Gorz, der Sartres Befreiung in der Arbeit in eine Befreiung von der Arbeit transformiert, meint dazu: „Das Ziel einer Gesellschaft, in der ein(e) jede(r) weniger arbeitet, damit alle Arbeit finden und besser leben können, wird somit heute zu einem der wichtigsten Faktoren der Erneuerung sozialer Freiheitsbewegungen“ [3].

Ganz im Sinne der Utopietradition setzt Gorz dabei auf den Wegfall von Dienstleistungen und eine „Kultur des Gebens“ als Kompensationsfaktoren, d. h. in einer solchen „1000-Stunden-Gesellschaft“ „müssen diejenigen Dienstleistungen, die den Zeitmangel zum Grund und die Einsparung von Zeit zum Zweck haben, an Wichtigkeit verlieren und zugunsten von Tätigkeiten weichen, deren Ziel es ist, Zeit zu verausgaben und sich am Tun und am Geben mehr als am Konsum und Erhalten zu freuen.

Eine Politik der Arbeitszeitverkürzung muß ausdrücklich auf größere Selbsttätigkeit angelegt sein; sie darf folglich die freigesetzte Zeit nicht der Kolonisierung durch Freizeitindustrie und Warenkonsum überlassen.“[4]

André Gorz: Und jetzt wohin? Zur Zukunft der Linken. (#Affiliate-Link)

Auffällig ist hier zum einen die „größere Selbsttätigkeit“, die dem Anti-Individualismus der Utopien gegenübergestellt wird, zum anderen die Absage an eine „Konsum- und Freizeitgesellschaft“ herkömmlichen Zuschnitts, also an eine Gesellschaft unter den Vorzeichen einer kolonialisierenden Freizeitindustrie, die von der wiedererrungenen Freiheit nur wenig übrig lässt.

Stattdessen werden die neu verfügbaren Zeitkontingente zur Verbesserung der Lebensbedingungen eingesetzt: „Die Zeit der Nicht-Arbeit ist dann nicht mehr notwendigerweise bloße Zeit zum Ausruhen, für Erholung, Zerstreuung und Konsum; sie dient nicht mehr zur Kompensation der Mühen, Zwänge und Frustrationen der Arbeitzeit“, sie kann „von Tätigkeiten ausgefüllt werden, die man ohne ökonomische Zwecksetzung unternimmt und die das Leben des einzelnen sowie der Gemeinschaft bereichern“.[5]

Reduktion und Redistribution von Arbeitszeit sind in der Tat erste Schritte auf dem Weg zu einer Wirtschaft, die dem Wachstum und der Erhöhung des Profits entsagt und auf Nachhaltigkeit und eine Verbesserung der Lebensbedingungen umstellt.

Einen Schritt weiterzugehen hieße, Arbeit bzw. Tätigkeit grundlegend umzuwidmen und vom Erwerb zu trennen. Viel diskutiert wird in diesem Kontext derzeit das bedingungslose Grundeinkommen, mit dessen Einführung endgültig ein neuer Gesellschaftsvertrag geschlossen und der Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform ermöglicht würde, indem der über Calvin, Locke und Smith tradierte Fleiß- und Leistungsethos überwunden und das wirtschaftspolitische Ziel der „Vollbeschäftigung“ ad acta gelegt wird.

 

Das bedingungslose Grundeinkommen

Das bedingungslose Grundeinkommen wird bereits vor einem halben Jahrtausend bei Thomas Morus erwogen. In dessen Inselstaat „Utopia“ (#Affiliate-Link) dient es zur Senkung der Diebstahlsrate. Morus hatte erkannt, dass noch so drakonische Strafen niemanden vom Diebstahl abhalten können, solange nicht dessen eigentliche Ursache, die Armut, behoben ist.

Das bedingungslose Grundeinkommen spielt auch in Gorz’ Vorstellungen eine zentrale Rolle. Das von ihm befürwortete garantierte und ausreichende Grundeinkommen soll dessen Empfänger nicht mehr zu jeder beliebigen Arbeit unter allen Bedingungen zwingen (wie wir es in Deutschland unter dem „Hartz-IV“/„Bürgergeld“-Regime erleben), sondern es zielt gerade auf die prinzipielle Befreiung von den Zwängen des Arbeitsmarktes.

Es soll den Menschen ermöglichen, unwürdige Arbeit bzw. unwürdige Arbeitsbedingungen abzulehnen. Durch das bedingungslose soziale Grundeinkommen entstehe eine „Gesellschaft, in der die Notwendigkeit der Arbeit sich als solche nicht mehr bemerkbar macht, weil jeder von Kindheit an von einer Fülle künstlerischer, sportlicher, wissenschaftlich-technischer, kunstgewerblicher, politischer, philosophischer, ökosophischer und kooperativer Aktivitäten beansprucht und mitgerissen wird“ [6].

Dieses neue Modell, in dem die Konstitute der demokratischen Gesellschaft, Freiheit und Menschenwürde, durch die Gewährleistung der Lebensgrundlagen in Verbindung mit der Schaffung erweiterter Möglichkeitsräume für neue Formen kultureller Lebensgestaltung geschützt und dauerhaft gesichert werden sollen, wird unter diesen Maßgaben von Bernhard H. F. Taureck aufgegriffen und expliziert.

Taurecks Ausgangsposition lautet lapidar: „Wer nicht arbeitet, ist arbeitslos, wer arbeitet, wird arbeitslos“[7].

Bernhard H. F. Taureck: Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung. (#Affiliate-Link)

Daher gibt es nur einen Ausweg aus dem Dilemma von entwürdigender Frustration und Angst: „Wenn es um ein Ende der Zukunftsängste geht, die auf der Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse beruhen, so ist eine konsequente Abkehr erforderlich von jener Verbindung von Arbeit mit Erwerb“[8].

Konkret fordert er eine Daseinssicherung für alle, jenseits bedingter staatlicher Alimentation: „Jedem Einwohner ist als Unterstützung bei seiner freien Selbst-Positionierung lebenslang eine an keine einschränkenden Bedingungen geknüpfte Existenzsicherung zu zahlen, die ihm ohne Lohnarbeit mühelos zu leben ermöglicht und bei der es ihm selbst überlassen bleibt, ob er zusätzlich einer entlohnten Arbeit nachgeht oder nicht“[9].

 

Einwände: Abhängigkeit und Trägheit

Das Grundeinkommen als Kompensation von Schlechterstellung erinnert an Rawls Modell in seiner „Theory of Justice“ (#Affiliate-Link), das von Dworkin scharf kritisiert wird. Das rawls’sche Differenzprinzip, nach dem Ungleichheiten nur dann zulässig sind, wenn sie zum Vorteil der am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieder ausfallen, führe nämlich, so Dworkin, zu einer pauschalen Umverteilung, die unabhängig von den Gründen der Schlechterstellung passiere.

Diese Bedingungslosigkeit, die beim Grundeinkommen zum Prinzip wird, sorge für Abhängigkeit und Trägheit und damit für die Unfähigkeit, das eigene Leben selbstbestimmt zu führen [10].

H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft. (#Affiliate-Link) Philosophie im Gespräch

Damit wäre gerade das bedroht, was Gorz, Taureck und andere Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens zu schützen beabsichtigen: Freiheit und Menschenwürde. Taureck hält die Kraft der Kultur dagegen, ganz im Einklang mit der frühneuzeitlichen Utopietradition (Bildungsideal), mit Skinners autarkem Kulturbetrieb und mit Gorz, der immer wieder die schöpferische Qualität der von der Logik des Marktes entbundenen, selbstbestimmten Tätigkeit hervorhebt.

Taurecks These lautet: Nur als kulturschaffend kann sich der Mensch wirklich frei entfalten. Aus der neuen sozialen Sicherheit erwächst für Taureck eine neue Dimension von Kultur, die allein in der Lage ist, dem Menschen Freiheit und Würde zu bewahren: „Es könnten dann, weil niemand mehr von Sorgen um seine Unversorgtheit verzehrt würde, Filme gedreht werden, die noch nie gedreht wurden, Romane geschrieben werden, die noch nie geschrieben wurden, Erkundungen unserer selbst erfolgen, die uns bisher unbekannt blieben, Entdeckungen einander abwechseln, die noch nicht einmal geahnt wurden. Die materiale Freisetzung unserer Selbst-Positionierungen würde uns vor uns selbst würdiger erscheinen lassen“[11].

 

Lösungsvorschlag: Kulturelle Demokratie

Für Taureck ist das bedingungslose Grundeinkommen die Basis der kulturellen Demokratie. Kulturelle Demokratie als Kompromissformel zwischen dem glücksstatischen Heil von oben (Utopismus) und der indifferenten Rechtsdynamik von unten (Kontraktualismus), eine Formel, mit der wohl auch Utopie-Kritiker Popper leben könnte, weil der von ihm kritisierte Anti-Individualismus, die geschlossene Gesellschaftsstruktur, die Unfreiheit, das Opfern der jetzigen Generation zugunsten des Glücks der nächsten hier nicht mehr bestimmend sind und es ja gerade auch um die poppersche Zielgruppe geht, also um Menschen, „die heute in unserer Mitte leiden“ [12].

Karl R. Popper: Utopie und Gewalt. In: Vermutungen und Widerlegungen. (#Affiliate-Link) Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis

Es sollte also wieder möglich werden, freiheitlich und zugleich „utopisch“ zu denken, denn „[w]eder intolerante Unterdrückung und doktrinäre Bevormundung noch Gleichgültigkeit und ,repressive Toleranz’ helfen der Gesellschaft weiter“ [13].

Hat die politische Utopie eine Zukunft? (#Affiliate-Link)

 

Fünf Thesen

Zum Schluss eine handvoll Thesen:


1. Arbeitszeitverkürzung, die Abwertung wirtschaftlicher und die Aufwertung nicht-wirtschaftlicher Tätigkeiten sowie ein bedingungsloses Grundeinkommen sind unerlässliche Elemente einer Re-Organisation von Arbeits- und Lebenszeit jenseits ökonomischer Verwertungslogik.


2. Es sollten geeignete Strategien zur Ausprägung eines kollektiv geteilten Willens zur Überwindung tradierter Wertsysteme entwickelt werden, um die Grundlage dafür zu schaffen, den Menschen neu in den Blick zu nehmen und seinem eindimensionalen, ökonomisch orientierten Selbstbild den Facettenreichtum einer umfassenderen Perspektive gegenüberzustellen.


3. Der Aufwertung von Lebenszeit, die nicht mit bezahlter Tätigkeit verbracht wird, geht das Ende des Paradigmas der Erwerbsarbeit als vorrangige, wenn nicht gar einzige Größe menschlicher Selbstvergewisserung voraus.


4. Wird bis dato vornehmlich die bezahlte Arbeitstätigkeit ins Zentrum der Reflexion über Menschen und deren Bezug zur Gesellschaft gerückt, ermöglicht diese neue Sichtweise die Ausübung unbezahlter, gleichwohl aber bereichernder, erfüllender Tätigkeiten ohne Prestigeverlust und damit die angestrebte Aufwertung von Lebenszeit.


5. Erst wenn die Würde des Menschen völlig unabhängig von den Rahmenbedingungen seiner Erwerbssituation gesehen wird und aus dieser Entflechtung die Freiheit aller Menschen zur unbedingten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben folgt, kann der Ansatz des bedingungslosen Grundeinkommens in der kulturellen Demokratie erfolgreich sein und diese ihrerseits die Entwicklung in Richtung einer neuen Gesellschaftskonstitution festigen.


Anmerkungen:

[1] André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft. (#Affiliate-Link) Hamburg 1994, S. 328; Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt a. M. 2000, S. 135.
[2] Gorz: Arbeit, S. 161.
[3] Gorz: Kritik, S. 318.
[4] André Gorz: Und jetzt wohin? Zur Zukunft der Linken. (#Affiliate-Link) Berlin 1991, S. 165.
[5] Gorz: Kritik, S. 328.
[6] Gorz: Arbeit, S. 133.
[7] Bernhard H. F. Taureck: Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung. (#Affiliate-Link), Eine Streitschrift. Hamburg 2006, S. 78.
[8] Taureck: Menschenwürde, S. 80.
[9] Taureck: Menschenwürde, S. 113.
[10] Vgl. Ronald Dworkin. Moral und Recht und die Probleme von Gleichheit und Freiheit. In: H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft. (#Affiliate-Link) Philosophie im Gespräch. Frankfurt a. M. 2000, S. 153-182.
[11] Taureck: Menschenwürde, S. 81.
[12] Karl R. Popper: Utopie und Gewalt. In: Vermutungen und Widerlegungen. (#Affiliate-Link) Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis (Bd. 2). Tübingen 1997, S. 524.
[13] Iring Fetscher: Was ist eine Utopie? Oder: Zur Verwechslung utopischer Ideale mit geschichtsphilosophischer Legitimationsideologie. In: Saage, R. (Hg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft? (#Affiliate-Link) Darmstadt 1992, S. 58-62, hier: S. 62.

Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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