Natur und Übernatur 2

Sinn und Sinnlichkeit – Empirismus

Ein enger Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis (damit auch Sinn) behauptet der Empirismus. Wer über den Empirismus spricht, kommt an John Locke nicht vorbei. 1671 beginnt Locke mit der Ausarbeitung seines erkenntnistheoretischen Hauptwerkes An Essay Concerning Human Understanding („Versuch über den menschlichen Verstand“), das er erst 1690 veröffentlichte.

Locke setzt sich darin mit den Anschauungen Descartes von den angeborenen Ideen auseinander und gelangt zu einem Sensualismus, bei dem der Begriff der Idee oder Vorstellung (idea) zentral ist. Das einzige, was direkt Gegenstand unserer Erkenntnis sein kann, sind die Ideen. Diese sind das Material der Erkenntnis und repräsentieren das, wovon sie Ideen oder Vorstellungen sind. Sie können als Zeichen (signa) verstanden werden, die die Wirklichkeit abbilden. Die Ideen werden in dieser Weise als Verbindungsglieder zwischen dem erkennenden Bewusstsein und der erkannten Wirklichkeit gedacht.

Für Locke besteht ein enger Zusammenhang zwischen Gültigkeit und Genese der Erkenntnis. Nach seiner Meinung nehmen die Rationalisten (z. B. Descartes) zu Unrecht an, dass bestimmte Ideen und Prinzipien, wie logische Prinzipien und allgemeingültige moralische Normen, angeboren sind. Wir werden nicht mit Ideen geboren, sondern mit einer Fähigkeit, solche Ideen zu bilden. Diese Fähigkeit ist das Erkenntnisvermögen. Der Verstand des Menschen ist bei seiner Geburt eine tabula rasa. Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist.

Alle Kenntnisse und Ideen gründen sich auf Erfahrung bzw. sinnliche Wahrnehmung. Locke unterscheidet zwei Quellen der Erfahrung. Die Sensation, die von den äußeren materiellen Dingen ausgeht und die Reflexion, die sich auf die inneren Operationen unseres Geistes bezieht. Diese Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bei Locke begründen den Empirismus.

Schon vor Locke hat sich Francis Bacon Gedanken über die Naturerkenntnis gemacht. Bacons Erkenntnistheorie ist gegen die ausschließlich deduktive Methodik der Scholastik gerichtet. Mit der Induktionsmethode entsteht bei Bacon ein neuer erkenntnistheoretischer Zugang zur Natur.

Die unverfälschte, unverdorbene Erkenntnis – für das „Verderben“ macht er die in der scholastischen Epistemologie maßgebliche Metaphysik Platons und Aristoteles’ verantwortlich – führt dabei nicht nur zur graduellen Verbesserung der Naturwissenschaft, sondern zu deren prinzipieller Neuorientierung, die den Menschen als Diener, Deuter, Beherrscher und schließlich Schöpfer der Natur bzw. ihrer perfektionierten Substitution betrachtet.

Seine induktiv-experimentelle Methode beschreibt Bacon zunächst in seinem Werk Novum Organum. Der Titel ist eine Anspielung auf Aristoteles Organon, das durch Bacons neuen Entwurf als wissenschaftstheoretische Folie abgelöst werden soll. Im Novum Organum werden die Prinzipien einer Wissenschaftsorganisation modelliert, bei der es um Naturerkenntnis und dadurch um Naturbeherrschung geht.

Schließlich erwächst daraus – und hier zeigt sich dann der Staatsmann Bacon – eine Erhöhung der eigenen Macht, also der Macht des Menschen einerseits und der Macht Englands andererseits. England war zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf dem besten Weg, die Renaissancemächte Spanien und Portugal zu verdrängen. Bacon erlebt dies als Abgeordneter. Ihm geht es darum, diese neue Position Englands durch eine effiziente, moderne Wissenschaftsorganisation zu untermauern und auszubauen.

Es geht in Bacons Wissenschaftsbild nicht um das ehrfürchtige Nachvollziehen eines natürlich-göttlichen Regelwerks, sondern um die schöpferische Entwicklung eigener Regeln aus der empirischen Forschungsarbeit. Bacon versucht damit, „die Enge des aristotelisch-scholastischen Dogmatismus zu sprengen“ (Ahrbeck: Morus, Campanella, Bacon. Frühe Utopisten, Köln 1977, S. 111), die er so verabscheut: „Diese Art degeneriertes Lernen herrscht hauptsächlich unter den Scholastikern […]. Ihre Gehirne sind in den Zellen einiger Autoren, hauptsächlich des Aristoteles, ihres Diktators, eingeschlossen so wie ihre Leiber in den Zellen der Klöster und Kollegien.“ (Bacon, zit. nach Kuczynski: Wissenschaft und Wirtschaft bis zur industriellen Revolution. Studien und Essays über drei Jahrtausende, Berlin 1970, S. 99).

 
 

Das Erfahrene ist bei Bacon also nicht mehr die Verkörperung des Allgemeinen im Einzelnen (aristotelische Deduktion). Bacon wendet sich gegen voreilige Thesenbildung ohne genaue Beobachtung der Sachverhalte und entwickelt als „neues Werkzeug“ (novum organum) die Induktion, die er als das Bündnis der „experimentellen […] und der rationalen“, der „beobachtenden und der denkenden Fähigkeit“ (Bacon: Das neue Organon, Berlin 1962, S. 106) ansieht.

Er beabsichtigt, „zu einer vollständigen Erneuerung der Wissenschaften und Künste, überhaupt der ganzen menschlichen Gelehrsamkeit, auf gesicherten Grundlagen zu kommen“ (ebd., S. 4). Der Mensch schaut dabei nicht nur sehr genau hin und erkennt dadurch das wahre Wesen der Natur, er wird auch befähigt, aus dem Anschauungsobjekt etwas „Neues“ zu formen und „schöpferisch“ mit der betrachteten Natur umzugehen.


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Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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