Natur und Übernatur. 1) Ein Nachdenk-Weg in fünf Schritten
Wem vertrauen wir, wenn es um Aussagen über die Welt geht, unseren fünf Sinnen oder unserem Verstand? Schon einfachste Alltagsbeispiele machen deutlich, dass wir zur Welterkenntnis eine Interpretation unserer Sinneseindrücke leisten müssen, die auch unseren Verstand fordert, besonders dann, wenn sich sinnliche Wahrnehmungen in den fünf Modi widersprechen. Ein Strohhalm im Wasserglas wirkt in der Flüssigkeit optisch „geknickt“, haptisch aber „gerade“.
Dass es bei der Wahrheitsfindung hinsichtlich der Beschaffenheit des Strohhalms also gar nicht um ein Entweder-Oder gehen kann, wird schon an dieser Alltagserfahrung deutlich. Mit Immanuel Kants bahnbrechender Synthese in der Kritik der reinen Vernunft (#Affiliate-Link/Anzeige) ist dieses Ergänzungsverhältnis von Sinnen und Verstand auf höchster erkenntnistheoretischer Ebene beschrieben worden. In Teil 4 wird davon noch die Rede sein.
Der Weg zu Kants Synthese war lang und führte über zwei Jahrhunderte heftigster Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Erkenntnis aus sinnlicher Wahrnehmung (den Empiristen) und denen, die Erkenntnis als Ergebnis der vernünftigen Betätigung des menschlichen Geistes an sich betrachteten (den Rationalisten).
Und auch nach Kant ging der Streit weiter: Die logischen Empiristen des Wiener Kreises (insbesondere Neurath) waren in ihrem Fundamentalpositivismus, nach dem ausschließlich sinnlich erworbene Daten Erkenntnis und Wissen begründen können, heftig bemüht, die metaphyischen Reste der Transzendentalphilosophie Kants verschwinden zu lassen (Neurath wollte gar Begriffe wie „Erscheinung“ auf einen Index verbotener Wörter setzen.); alles unsinnlich war ihnen unsinnig. Dass sich dagegen Widerstand formierte, ist verständlich (insbesondere Quine hat hierzu Beiträge geleistet).
Heute gibt es im Zusammenhang mit den erstaunlichen Ergebnissen der Hirnforschung, die gerade in ihrer Popularisierung auf visuelle Effekte setzt, wiederum eine Auseinandersetzung über die Tragweite der empirisch-experimentellen Methodik der Naturwissenschaften.
Der Streit geht um den epistemologischen Status der Sinne; die Bruchstelle wird markiert von den Differenzen zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft einerseits bzw. zwischen Naturalismus und Dualismus andererseits, so dass wir methodologische und ontologische Argumentationen vorliegen haben, die sich, etwa in der Qualia-Debatte, mischen, wenn die methodische Unzulänglichkeit der Hirnforschung ontologisch begründet wird. Die übergeordnete Frage lautet: Kann uns die Sinnlichkeit den letzten Sinn erschließen?
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