Menschenbild, Verfassungsgeschichte, Rechtstradition

Bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter geht es um die Würde

Beim Bundesverfassungsgericht müssen drei Stellen neu besetzt werden. Josef Christ, Doris König und Ulrich Maidowski scheiden aus und jetzt braucht man drei Neue. Der Wahlausschuss des Deutschen Bundestags hat als Kandidaten vorgeschlagen: Günter Spinner, derzeit Richter am Bundesarbeitsgericht, Ann-Katrin Kaufhold (Jura-Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München) und Frauke Brosius-Gersdorf, die an der Universität Potsdam lehrt.

Um letztere Personalie gibt es derzeit eine Debatte, in die sich auch Lebensrechtsorganisationen eingeschaltet haben, denn Frauke Brosius-Gersdorf steht für die Abschaffung der Strafbarkeit von Abtreibungen (also: Streichung des § 218 StGB). Im Hintergrund steht bei ihr die Idee einer Abstufung der Menschenwürde. Diese jedem Menschen zuzubilligen, hält sie für einen naturalistischen Fehlschluss, wobei sie damit den Begriff etwas zweckentfremdet, denn damit ist ein Fehlschluss vom Sein aufs Sollen gemeint. Also: Etwas ist. Daraus folgt: Es soll auch so sein.

Bei der Würde – in der klassischen naturrechtlichen, aber auch verfassungsrechtlichen Sicht – ist das Sein die Bedingung, das Kriterium. Was Mensch ist, soll Mensch sein dürfen. Das ist kein Fehlschluss, sondern eine Festlegung, die religiös begründet werden kann (etwa schöpfungstheologisch und christologisch), die aber auch naturrechtlich begründet werden kann, durch die Feststellung, dass nur das Sein den Menschen zum Menschen macht. Das ist trivial.

Und dass – einen Schritt weiter gedacht – die Würde als das Grundlegendste dessen, was allem menschlichen Leben zukommt, eben mit dem Sein des Menschen untrennbar verbunden ist. Menschenwürde besitzt jeder Mensch, allein weil und soweit er Mensch ist. Man spricht von ontologischer Würde, aus dem Sein des Menschen abgeleiteter Würde.

Woran sollte man den Begriff sonst festmachen? So, dass er unveräußerlich ist. Und bleibt. Es ist doch gerade das Unhintergehbare an der Würde, dass sie ans Sein gebunden ist. Wer Mensch ist, soll Mensch sein dürfen. Wer dies falsch findet, muss sagen, welche Menschen nicht Menschen sein dürfen sollen.

Frauke Brosius-Gersdorfs Haltung zu einer Abstufung bei der Würde ist ein Bruch mit dem Christentum, mit dem Naturrecht, mit der Rechtstradition des Grundgesetzes und des deutschen Strafrechts und es ist auch ein Bruch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst.

 

Bundesverfassungsgericht (bisher): Keine Abstufung bei Menschenwürde und Lebensrecht

Dessen geltende Rechtsprechung betont nämlich: Alle Versuche, Zeitabschnitte zu definieren, in denen menschliches Leben ohne weiteres getötet werden darf, unterlaufen die Unbedingtheit und Unverfügbarkeit der Menschenwürde, wie sie unser Grundgesetz ausweist („Die Würde des Menschen ist unantastbar“, Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 GG), die unmittelbar evidente Einsicht unterstellt, dass die Tötung eines Menschen dessen Würde „antastet“ – Ende des Lebens, Ende der Würde. Eine moralisch und / oder rechtlich relevante Stufung menschlichen Lebens ist in unserer Verfassung nicht vorgesehen. Der grundgesetzlich verbriefte Lebensschutz nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“) gilt auch dem Ungeborenen, wie das Bundesverfassungsgericht 1975 unmissverständlich feststellte: „Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der ‚lebt‘; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden. ‚Jeder‘ im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist ‚jeder Lebende‘, anders ausgedrückt: jedes Leben besitzende menschliche Individuum; ‚jeder‘ ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen“ (BVerfGE 39, 1, 133). Ganz klar: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut“ (BVerfGE 39, 1, 131).

Das Bundesverfassungsgericht bezog sich bei seiner Entscheidung im Jahre 1975 ausdrücklich auf die Entstehungsgeschichte des Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG. Diese lege nahe, dass die Formulierung „Jeder hat das Recht auf Leben“ auch das „keimende“ Leben einschließen solle. Tatsächlich war schon in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates klar, dass es um eine derart weit gefasste Konzeption des Lebens gehen soll, wenn dieser Begriffe im Grundgesetz Verwendung findet.

 

Auch das keimende Leben“ – Die Argumentation des Parlamentarischen Rats

Nachdem die Fraktion der Deutschen Partei (DP) wiederholt den Antrag gestellt hatte, im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch das „keimende Leben“ ausdrücklich zu erwähnen, beriet der Parlamentarische Rat erstmalig in der 32. Sitzung seines Ausschusses für Grundsatzfragen am 11. Januar 1949 dieses Thema. Der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates befaßte sich in seiner 42. Sitzung am 18. Januar 1949 bei der Zweiten Lesung der Grundrechte eingehender mit der Frage der Einbeziehung des werdenden Lebens in den Schutz der Verfassung. Der Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm (DP) beantragte, dem damaligen Artikel 2 Absatz 1 GG die beiden Sätze anzufügen: „Das keimende Leben wird geschützt“ und „Die Todesstrafe wird abgeschafft“. Dazu führte Seebohm aus, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit umfasse möglicherweise nicht unbedingt auch das keimende Leben. Deshalb müsse es besonders erwähnt werden. Die Abgeordnete Helene Weber, einzige Frau in den Reihen der Union, erklärte für ihre Fraktion, diese meine das Leben schlechthin, wenn sie für ein Recht auf Leben eintrete, also auch das keimende Leben. Zuspruch bekam sie vom späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP).

Im Parlamentarischen Rat gab es also eine Lebensschutzkoalition aus CDU/CSU, DP und FDP: Leben ist jedes Leben, geboren oder ungeboren. Einzig die SPD konnte sich dieser Sicht nicht anschließen. Für die Sozialdemokraten meinte der Abgeordnete Otto Heinrich Greve, dass er unter dem Recht auf Leben nicht auch automatisch das Recht auf das keimende Leben verstehe. Seebohm stellte daraufhin seinen Antrag auf ausdrückliche Erwähnung des „keimenden Lebens“ erneut zur Abstimmung im Ausschuß. Dieser Antrag wurde mit 11 zu 7 Stimmen abgelehnt, aber nicht etwa deshalb, weil man ihn für inhaltlich unbegründet, sondern allein deshalb, weil man ihn für formal unnötig hielt. Es war für die Mehrheit aus Union und FDP schlicht überflüssig, extra zu erwähnen, dass mit „Leben“ im Grundgesetz auch „keimendes Leben“ gemeint sei. So steht es im Schriftlichen Bericht des Hauptausschusses zu Artikel 2 GG. Die zusammenfassende Einschätzung des Abgeordneten Hermann Hans von Mangoldt (CDU) lautet darin: „Dabei hat mit der Gewährleistung des Rechts auf Leben auch das keimende Leben geschützt werden sollen. Von der Deutschen Partei im Hauptausschuß eingebrachte Anträge, einen besonderen Satz über den Schutz des keimenden Lebens einzufügen, haben nur deshalb keine Mehrheit gefunden, weil nach der im Ausschuß vorherrschenden Auffassung das zu schützende Gut bereits durch die gegenwärtige Fassung gesichert war“ (zit. nach BVerfGE 39, 1, 139). Das Plenum des Parlamentarischen Rates stimmte dem Artikel 2 Absatz 2 GG am 6. Mai 1949 in Zweiter Lesung bei zwei Gegenstimmen zu. Bei der Dritten Lesung am 8. Mai 1949 brachten sowohl der Abgeordnete Seebohm als auch die Abgeordnete Weber zum Ausdruck, dass nach ihrer Auffassung Artikel 2 Absatz 2 GG auch das keimende Leben in den Schutz des Grundrechts auf Leben einbeziehe. Beide Redner blieben mit ihren Ausführungen unwidersprochen.

Also: Unser Grundgesetz billigt allen Menschen ein Recht auf Leben grundsätzlich zu: behindert oder nicht, deutsch oder nicht, leistungsfähig oder nicht, geboren oder ungeboren, alt oder jung, krank oder gesund. Denn in Artikel 2, Absatz 2 sind alle mitgemeint, ohne Einschränkung. Jede Einschränkung widerspräche der Menschenwürde, dem obersten Verfassungsprinzip.

Weil der grundgesetzlich verbriefte Lebensschutz auch dem Ungeborenen gilt, ist die Abtreibung in Deutschland ein Gegenstand des Strafrechts, also: verboten. Das ist logisch. Wenn ein grundlegendes Verfassungsrecht so massiv verletzt wird (es wird im Fall der Abtreibung mit Blick auf den ungeborenen Menschen aufgehoben), ohne dass es dafür definierte normative Schranken gibt (andere Grundrechte, Gesetze), kann der Staat nicht einfach zusehen. Dieser Staat hat eine in sich widersinnige Konstruktion erdacht: Die Abtreibung ist rechtswidrig (§ 218 StGB), bleibt aber straffrei für den Fall, dass a) Bedingungen vorliegen, die die Abtreibung aus der subjektiven Sicht der Frau unausweichlich machen (§ 218a Absatz 2), so dass sie selbst die Entscheidung trifft (§ 218a Absatz 1 Nr. 1) und b) zuvor eine Beratung stattfand (§ 218a Absatz 1 Nr. 1 i.V.m. § 219 Abs. 2). Man kann jetzt über diesen Kompromiss denken wie man will, § 218 StGB einfach zu streichen, geht gar nicht, denn damit bliebe ja die Aufhebung eines Grundrechts für bestimmte Menschen, nämlich die Ungeborenen, ohne weiteres und jederzeit möglich.

 

Peter Singer als Vordenker

Und genau das findet Frauke Brosius-Gersdorf offenbar gut und richtig. Wie kann man darauf kommen? Dafür braucht es eine Auflösung der festen Verbindung von Mensch-Sein und Menschenwürde. Auf so etwas kommt man nur, wenn man die Würde nicht mehr ontologisch bestimmt, sondern von Bedingungen abhängig macht, etwa von Interessen und Präferenzen, wie das etwa der australische Ethiker Peter Singer tat, mit Blick auf Tiere. Singer meint, die klassische Unterteilung zwischen Mensch und Tier verfange nicht, man müsse vielmehr unterscheiden zwischen Wesen, die Schmerzen empfinden können und ein Interesse daran haben, von Schmerzen verschont zu bleiben, und Wesen, die das nicht können und damit auch kein Verschonungsinteresse haben. Erstere nennt er nun Personen, letztere wären damit „Nicht-Personen“.

Dabei gehören „some nonhuman animals“ (P. Singer, Practical Ethics, Cambridge 1979, 97) in die erste Gruppe (etwa Affen, Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans), jeder menschliche Fötus jedoch in die zweite, denn: „no fetus is a person“ (sagt Singer, a. a. O., 118), ergo: „no fetus has the same claim to life as a person“ (ebd.). Für Singer hat die (angebliche) Unfähigkeit von Föten vor der 18. Schwangerschaftswoche „of feeling anything at all“ (ebd.) die Konsequenz, dass „an abortion up to this point terminates an existance that is of no intrinsic value at all“ (ebd.). Die Frage ist jetzt gar nicht mal, ob das überhaupt stimmt, dass der Fötus nichts spürt, sondern entscheidend ist die Denkweise dahinter. Es gibt menschliches Leben, das keinen Wert hat.

Und genau in diese Kerbe schlägt nun Frauke Brosius-Gersdorf und möglicherweise demnächst auch das Bundesverfassungsgericht insgesamt. Das erfüllt mich mit großer Besorgnis.

Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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