Versöhnung im Schatten der Bombe. Zum Gedenken an Hiroshima und Nagasaki
Vor 80 Jahren – am 6. und 9. August 1945 – explodierten Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki. Es sind die ersten und bis heute einzigen Atomwaffeneinsätze in kriegerischen Konflikten. Der Umgang mit der Erzkatastrophe des Nuklearzeitalters ist in Hiroshima und Nagasaki höchst unterschiedlich.
„Es könnte möglich sein, in einer großen Masse Uran eine nukleare Kettenreaktion in Gang zu setzen, durch die gewaltige Mengen an Energie und große Mengen an neuen radiumähnlichen Elementen erzeugt würden. Mittlerweile scheint es fast sicher zu sein, dass dies in naher Zukunft erreicht werden könnte.
Dieses neue Phänomen würde auch zum Bau von Bomben führen, und es ist denkbar – wenn auch weit weniger sicher –, dass auf diese Weise extrem starke Bomben gebaut werden können. Eine einzige Bombe dieser Art, die auf einem Schiff transportiert und in einem Hafen zur Explosion gebracht würde, könnte sehr wohl den gesamten Hafen und einen Teil des umliegenden Gebiets zerstören. Für den Transport auf dem Luftweg könnten sich solche Bomben jedoch als zu schwer erweisen.“
Dies schrieb Albert Einstein am 2. August 1939 an den US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt.
Das Schreiben ist auf englisch abgefasst. Es sollte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs auf die drohende Gefahr von Atombomben in den Händen der Nationalsozialisten aufmerksam machen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es – fast auf den Tag genau – sechs Jahre später die USA waren, die die ersten Atombomben – sehr wohl „auf dem Luftweg“ – ins asiatische Zielgebiet bringen und über den japanischen Großstädten Hiroshima and Nagasaki abwerfen.
Die verheerende Atombombe
Über Hiroshima explodiert die Bombe am 6. August 1945 um 8:16 Uhr Ortszeit, über Nagasaki am 9. August 1945 um 11:02 Uhr Ortszeit. Dabei kamen insgesamt etwa 100.000 Menschen ums Leben, weitere Zehntausende starben in den folgenden Wochen und Monaten an den erlittenen Verletzungen. Die Zahl der Todesopfer wird mit mindestens 130.000 angegeben, die Schätzungen liegen – je nach Quelle – deutlich höher, es lassen sich Angaben bis zur doppelten Opferzahl finden.
Berücksichtigt man zusätzlich die Spätfolgen der für Jahrzehnte stark radioaktiv belasteten Regionen, lässt sich die Gesamtzahl derer, die direkt oder mittelbar aufgrund der Atombombenabwürfe starben, kaum seriös schätzen.
Als Albert Einstein vom Einsatz der Atombombe hört, ist er entsetzt und verschreibt sich fortan der Arbeit an einem gerechten Frieden. Am 21. März 1952 notiert er:
„Ich bin Pazifist – aber nicht Pazifist um jeden Preis. Meine Anschauungen decken sich nahezu mit denen Gandhis. Aber gegen einen Mordversuch an mir oder gegen den Versuch, mir oder meinem Volk die Existenzmittel zu entziehen, würde ich mich, allein oder mit anderen zusammen, zur Wehr setzen. Darum war ich überzeugt, daß der Kampf gegen Hitler berechtigt und notwendig war: Denn hier handelte es sich um einen beispiellosen Versuch der Ausrottung ganzer Völker“, nachzulesen in: Über den Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang? (# Affiliate-Link).
Historiker streiten seit 80 Jahren über die Atombombenabwürfe und ihre Bedeutung. Haben sie hunderttausenden amerikanischen und japanischen Soldaten und möglicherweise mehreren Millionen Zivilisten „das Leben gerettet“, weil eine Invasion Japans unnötig wurde?
Oder war diese Invasion nie geplant und die Atombombenabwürfe lediglich eine Machtdemonstration der USA gegenüber dem bis dato Verbündeten, nunmehr aber neuen Gegner, der Sowjetunion, den Tod hunderttausender Zivilisten in Kauf nehmend?
Robert Spaemann: Prinzip Zerstörung
Philosophen fragen noch grundsätzlicher.
Kann man zwischen der militärischen und der zivilen Nutzen der Kernspaltung einen Zusammenhang herstellen, der über die wissenschaftliche Frage der physikalischen Grundlagen und der technologischen Verwertung hinausgeht?
Kann ein Konnex gesehen werden, der ethischer Art ist, also normative Schlüsse zulässt?
Man kann.
Der Philosoph Robert Spaemann etwa hielt die Nutzung von Kernenergie für prinzipiell lebensfeindlich, da ihr Prinzip Zerstörung sei und ihr damit gleichsam der Tod konstitutiv innewohne: „Es ist nicht von ungefähr, dass die erste Nutzung der Kernenergie ein Massenmord war, der Massenmord an den Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki“, so Spaemann in Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter (#Affiliate-Link).
Die Entfesselung der Kernenergie in der Atombombe basiere auf dem „Unfriedlichen“ dieser Energieform überhaupt, die Rede von der „friedlichen Nutzung“ betrachtet Spaemann als „Augenwischerei“, um an der Lebensfeindlichkeit des nuklearen Prinzips vorbeisehen zu können.
Was Hiroshima und Nagasaki eint
Hiroshima und Nagasaki – die Namen der beiden Städte repräsentieren auch 80 Jahre danach den Schrecken der Bombe, in deren Schatten die Welt fortan steht. Die Tatsache, dass einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg beide ideologischen Lager des Kalten Krieges über hinreichend nukleares Potential verfügen, die Menschheit gleich mehrmals umzubringen, lässt den Ost-West-Konflikt nicht zu einem Dritten Weltkrieg werden.
Die schockierenden Bilder der völlig zerstörten Städte mögen das ihre dazu beigetragen haben, dass sich die Menschheit diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs den Einsatz von Atomwaffen verbat. Tatsächlich blieb es bis heute bei Hiroshima und Nagasaki, obwohl auch 80 Jahre danach weltweit rund 12.000 Atomsprengköpfe einsatzbereit sind.
Hiroshima und Nagasaki – die Städte werden in einem Atemzug genannt, wenn der beiden Atombombenabwürfe am Anfang eines jeden Augusts zusammen gedacht wird. Die Ereignisse gehören auch in einen Kontext, so dass es gut und richtig ist, wenn die Gedenkkultur in unserem kollektiven Gedächtnis eine einheitliche Erinnerung wach hält, die keine Unterschiede zwischen dem ersten Opfer (Hiroshima) und dem zweiten (Nagasaki) macht.
Was die Städte eint, ist zu offensichtlich: das Schicksal totaler Vernichtung.
Was Hiroshima und Nagasaki trennt
Doch gibt es auch etwas, das sie trennt? In dem Buch Ein Lied für Nagasaki (#Affilate-Link), einer Biographie des japanischen Radiologen Takashi Nagai, schreibt der Autor Paul Glynn über die großen Differenzen zwischen Hiroshima und Nagasaki in der Bewältigung der Katastrophe:
„Hiroshima ist bitter, laut, hochpolitisch, linksgerichtet und antiamerikanisch. Sein Symbol könnte eine zornig geballte Faust sein. Nagasaki ist traurig, still, nachdenklich, unpolitisch und betend. Es wirft den Vereinigten Staaten nichts vor, sondern beklagt stattdessen die Sündhaftigkeit des Krieges, insbesondere des Atomkrieges. Sein Symbol: die zum Gebet gefalteten Hände“.
Das Zeugnis des Paul Takashi Nagai
Dieser Umgang mit der nuklearen Katastrophe mag in Nagasaki auch einen Grund in der religiösen Tradition der Stadt haben, die seit Jahrhunderten vom Christentum geprägt ist.
So wie auch Takashi Nagai, der sich nach Lektüre die Schriften Blaise Pascals, die ihn als Naturwissenschaftler besonders angesprochen haben, zum katholischen Glauben fand und sich 1934 taufen ließ. Mit der Taufe wurde aus Takashi Paul – in ehrender Erinnerung an den Märtyrer und Heiligen Paul Miki aus dem 16. Jahrhundert.
Paul Takashi Nagai bleibt auch in der schwärzesten Stunde seines Lebens, am 9. August 1945, dem Schicksalstag Nagasakis, geborgen in Gott. Bei dem Angriff stirbt seine Frau. Selbst schwer verletzt, hilft Nagai anderen Opfern – als Radiologe und als Christ.
Er deutet den verhehrenden Angriff auf seine Stadt später sogar als Opfer. Bis zu seinem Tod setzt der inzwischen bettlägrige Nagai sich für die Menschen in Nagasaki ein: im Gebet um Heilung der äußeren und inneren Wunden.
Als er 1951 an den Folgen des Atombombenabwurfs stirbt, wird er von vielen seiner Zeitgenossen als Heiliger verehrt.
Versöhnung als Schlüssel zum Neubeginn
Es scheint, dass die Menschen in Nagasaki etwas hatten, was den Menschen in Hiroshima fehlte: die Kraft zur Versöhnung mit dem Feind und mit sich selbst, eine Kraft, die nicht zuletzt aus dem christlichen Glauben gewonnen werden kann, wie ihn von Miki bis Nagai viele Menschen nach Nagasaki gebracht hatten.