Angst verstehen – Angststörungen mit Philosophie erklären (Teil 3)

Angst zu verstehen ist nicht nur für Betroffene von Angststörungen oder Depressionen wichtig, sondern auch für das Umfeld und noch viel mehr für eine erfolgreiche Therapie. In der Psychologie erschöpft man sich leider in biologischen Beschreibungen, die aber nicht hinreichend erklären, wieso Angsterkrankungen zustande kommen & wo ihre Grundlagen liegen. Die Philosophie findet andere Ausdrucksmöglichkeiten.

Angst verstehen mit Philosophie

Das Phänomen Angst

Angststörungen sind mehr als biologische Erscheinungen. Die phänomenologische Philosophie will das Erleben und den Sinn von Angst verstehbar machen.

 

Sozialphobie dank Philosophie verstehen

Angststörungen sind mehr als Herzrasen, Schweißausbrüche und irrationale Gedanken. Bist Du betroffen, dann geht es um Dein gesamtes Wesen, Dein blankes Sein. Es sind nicht nur die Symptome von Angst- oder Panikattacken, die Dich belasten. Es ist Deine Lebenswelt, Dein defizitäres Ich, Deine unzulängliche Existenz inmitten einer bedrohlichen Welt.

Verstehen ist nicht beschreiben

Während sich die gängige Psychologie aufs Beschreiben von Symptom-Komplexen reduziert, bemüht sich die phänomenologische Psychiatrie darum, das Angsterleben wirklich zu verstehen.

Dieser Ansatz geht nämlich davon aus, dass Psychotherapie nur dann erfolgreich ist, wenn sie auf dem Verstehen des individuellen Selbst- und Weltbezugs gründet.

Und hier bewegen wir uns auf dem Feld der Philosophie!

Vgl. Philosophie und Psychologie Vgl. auch: Was ist Philosophie? Siehe auch Angst erleben – die phänomenologische Struktur der Angst


Evtl interessant für Dich:

Teil 1 – die Grundlagen: Angst in der Existenzphilosophie


 

Angst verstehen mit Philosophie

– Die existenzielle Scham –

Vielen psychischen Krankheiten werden von existenziellen Schamgefühlen begleitet. Vgl. auch Schamkrankheiten – toxische Scham

Existenzielle Scham bedeutet, Du hast das Gefühl oder den Gedanken, als Person grundsätzlich unerwünscht oder mit einem tiefgreifenden Makel behaftet zu sein, wie es bei Sozialer Phobie besonders deutlich hervortritt.

Ein weiteres Beispiel ist das KDS Syndrom, mit dem Unterschied, dass es sich auf die Körperlichkeit anstatt die Person projiziert.

Die existenzielle Angst

Die Existenzphilosophie geht außerdem davon aus, dass sich der moderne Mensch grundsätzlich einer Existenzangst ausgesetzt fühlt. Begründet durch sein einzigartiges Dasein und seinen spezifischen Bedingungen des Daseins.

 

1) Ängste verfremden Lebenswelt

Ängste verfremden Lebenswelt

Jeder Mensch bewegt sich im physischen Raum durch Beziehungen zum umgebenden Raum, anderen Menschen und Objekten. Psyche, und Körper stehen in ständiger Interaktion mit der Umwelt, um sie mit den Sinnen und dem Geist zu erfassen, aber auch um sich räumlich zurechtzufinden.

Als Mensch mit sozialer Phobie, Depression oder Entstellungsangst ist diese Interaktion zur Umwelt gekappt.

Schlägt die Angst zu, trennt sie Dich schlagartig von Raum und Umwelt.

 

Du findest keinen Punkt im Raum mehr, an dem Du Halt findest und Dich orientieren kannst.

Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, der Raum um Dich, Deine Möglichkeiten an Handlungsspielraum sind nicht weit, sondern auf eine Enge reduziert, die Dir den Atem raubt.

In existenzphilosophischer Hinsicht wirst Du in der Angst auf Dich selbst zurückgeworfen.

Was soll das genau heißen?

Das bedeutet, Du findest aus der leiblichen Enge nicht heraus.

Du bist gefangen in Deinem krankhaften Körpererleben, das auch Dein Denken komplett beherrscht.

Vgl. Leib & Leiblichkeit – Körper haben, Leib sein

 

Allein in einer feindlichen Welt

Auch das typische Symptom des Schwindels lässt sich so besser verstehen.

Nimmst Du Deine Umwelt anders wahr und verlierst Du die leibliche Orientierung im Raum, haben Blickbewegung, Motorik und Gleichgewichtssinn nichts, woran sie einen Fixpunkt zur Positionierung und Stabilisierung ausmachen könnten.

Sozialphobikern wird schwindlig, weil ihr Sinn für Halt und Sicherheit gestört ist.

Es geht aber noch weiter: Deine Wahrnehmung der Umwelt färbt sich atmosphärisch zu einer feindlichen Welt voller potentieller Gefahren. Und Du stehst im Mittelpunkt und musst stets vorsichtig sein.

Heißt: dauerhafter Stress für Körper und Psyche.

 

Diese Form des Angsterlebens zeigt sich besonders deutlich bei Angststörungen, die mit Veränderungen der Raumwahrnehmung in Verbindung stehen (Klaustrophobie, Agoraphobie, Höhenangst).

Als psychisch kranker Mensch reduzieren sich Deine Möglichkeiten, außerhalb der Angst zu denken und zu handeln auf ein Minimum – weil Dir die Orientierung und Verbindung zur Umwelt fehlt und sich in der Folge Deine Lebenswelt zu einer bedrohlichen Unwelt verfremdet, der Du Dich Tag für Tag voller Anspannung & Angst aussetzen musst.

 

2) Angst korporifiziert den Leib

Der Leib gilt in der Phänomenologie als verschieden zum physischen Körper. Er ist das Instrument, über das Du Deine Umwelt, Mitmenschen und Teile Deines Selbst innerlich wahrnimmst. Der Leib ist die innerpsychische Bedeutung des Körperlichen.

„Ich werde erblickt, d.h. ich werde aus meiner eigenen Zentralität herausgerissen und zu einem Gegenstand innerhalb einer fremden Welt. Der Blick dezentralisiert meine Welt. Auch meinen Körper sehe ich nur in Ausschnitten, zumal mein Gesicht bleibt mir verborgen, immer "im Rücken" meines Blicks. Vermittels dieses blinden Flecks bemächtigt sich nun der Blick des Anderen meines Leibes, erfasst ihn und verwandelt ihn in einen gesehenen Körper.“ (Sartre)

 

Was faselt Sartre jetzt da, wenn er sagt, „Ich werde...zu einem fremden Gegenstand (...).“?

Das bedeutet, Du erlebst Dich mit Leib, Körper und Geist nicht mehr als Einheit. Vielmehr erstarrt Dein Leib: Dein körperliches Selbstempfinden ist verändert oder besser gesagt, abhanden gekommen.

Dein Leib wird zum Objekt – er erkaltet und wird taub.

Heißt, Du wirst dadurch zu einem unmenschlichen Ding. Entwertet als Mensch und Person. Du fühlst Dich in Dir selbst fremd, insbesondere bei unverständlichen Reaktionen wie Panik- und Angstattacken.

 

Gefangen im Missempfinden des Körpers

Gefangen im Missempfinden des Körpers

Gerade bei Panikattacken drängt sich die leibliche Enge, auf die sich Dein Sein und Erleben reduziert, mit aller Gewalt ins Bewusstsein:

Du hast Probleme zu atmen, Dir ist schwindlig und kotzübel – gefangen im Körper, der nur noch eine Missempfindung ist…

Dazu passt eine der neuesten Untersuchungen in der Hirnforschung (5): Das Gehirn enthält unentwegt Signale von den Organen und anderen inneren Körperbereichen.

 

Unterbewusste Fehlinterpretation von Körpersignalen

Diese Signale werden unterbewusst wahrgenommen und verarbeitet. Die Innenwahrnehmung nennt man in der Forschung Interozeption.

Wozu ist die gut? Sie hilft dem Gehirn und Körper, wichtige physiologischen Mechanismen aufrechtzuerhalten und den Umweltbedingungen anzupassen, wie zum Beispiel die Atmung beim Schlafen, die Körpertemperatur bei Kälte u.s.w.

Bei Menschen mit Angststörungen, Depressionen, Magersucht & Co. ist die Wahrnehmung der Körpersignale viel schwächer ausgeprägt. Sie besitzen eine niedrige Interozeptionsfähigkeit: vielleicht hängt damit auch die Fehlinterpretation von Körperreaktionen zusammen, wie sie zum Beispiel bei Panikattacken auftritt (Todesangst). Vgl. Panikattacke: Nachwirkungen – Symptome danach (Überblick)

 

3) Angst unterbricht das Zeiterleben

Soziale Angststörungen behindern auch Dein Zeiterleben von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Angst wird das Zeitkontinuum gebrochen.

Du bist an die Gegenwart gebunden, andere Gedanken haben keinen Raum.

Der Sinn für die Vergangenheit, das Bewusstsein für sie, ist völlig abgeschnitten.

Du hast keine Möglichkeit aus der leiblichen Enge in die gedankliche Weite zu flüchten.

 

Bedeutet: reflektiertes Denken oder überhaupt Nachdenken ist Dir unmöglich.

Neben dem rohen Jetzt und Hier, das Dir keinen Platz lässt und Dich bedrohlich einengt, ist Dein Zukunftsbezug stark eingeschränkt. Damit meine ich die Katastrophengedanken („Gleich sterbe ich“, „alle werden lachen“), die Dich komplett vereinnahmen und das Schlimmste befürchten lassen.

Andere positive Szenarien kommen Dir bei Panikattacken oder Angstanfällen gar nicht in den Sinn. Es gibt nur Flucht oder Untergang - eine distanzierte Perspektive kannst Du nicht aufbauen.


”Ich schäme mich meiner, wie ich dem anderen erscheine. ... Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wiederzuerkennen”

– Sartre


 

4) Sozialangst isoliert & vereinsamt

Jeder Mensch steht in einem Beziehungsgeflecht zu anderen Menschen und braucht eine vertraute Gemeinschaft, die zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört.

Als Sozialwesen sind wir bereits seit unserer Geburt an auf andere Menschen und ihre Hilfe angewiesen.

Was Sartre mit Gegenstand meint, zielt auf die soziale Ebene der Leib-Raum-Störung ab: Du fühlst Dich nicht mehr als Mensch unter Menschen, sondern minderwertig, exponiert und andersartig.

 

In Deiner Lebenswelt gibt es nur Dich, das anormale Ding, und die anderen, die Dich beurteilen.

So fürchtest Du ständig, von anderen Menschen verlassen, ausgesetzt, herabgewürdigt oder bestraft zu werden.

Und da Du Dich im Zentrum der Aufmerksamkeit glaubst, ist diese Gefahr permanent vorhanden, sobald Du Dich außer Haus bewegst.

Übrigens lassen sich vor diesem Hintergrund auch Vermeidungsstrategien, wie Versagensangst, Angst vor Kontrollverlust, Angst vor Statusverlust sowie Bindungsangst oder Geltungsdrang, besser verstehen.

Wie ein Damokles-Schwert schwebt die Angst über Dir, vor anderen oder in der Öffentlichkeit durch Deine Andersartigkeit aufzufallen.

 

5) Soziale Phobie raubt Freiheit

Freiheit ist nach Sartre eine besondere Art des Menschen, die Welt zu erleben. Sie zeigt sich in ihrer Fülle an Möglichkeiten, das eigene Selbst und Leben zu gestalten. Diese Freiheit ist jedem Menschen gegeben.

Außer Angstpatienten*innen und anderen psychisch Kranken. Statt vielen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten bist Du bei sozialer Phobie auf ein angstbesetztes Muster beschränkt.

 

Dein Alltag wird völlig von Überlegungen überlagert, wie Du Begegnungen mit anderen Menschen oder gefürchtete Situationen vermeidest, was Schreckliches passieren könnte, ob sich Dein Körper normal anfühlt usw.

Aber nicht nur, dass Du nicht mehr in der Lage bist, Alltag und Leben selbstbestimmt zu gestalten. Auch Deine Chancen, Erfahrungen zu sammeln und mit anderen Menschen zu interagieren, werden dadurch Stück für Stück geringer.

Auf diese Weise wird der Spielraum, den Dir die Angstkrankheit noch lässt, stetig kleiner und kleiner - bis sich die Angst so generalisiert oder verstetigt hat, dass überhaupt kein Raum zum Leben bleibt.

 

Fazit: Angst verstehen mit Philosophie

Fazit: Angst verstehen mit Philosophie
  • Sozialphobie und andere Angststörungen verfremden Deine vertraute Lebenswelt. Dein Denken, Fühlen und Wahrnehmen stehen unter der Regie der Angst.

    Darum erlebst Du Menschen und Geschehnisse bedrohlich oder abweisend.

  • Die Korporifizierung des Leibes entfremdet Dich wiederum Dir selbst.

    Dein Körpererleben ist Dir plötzlich völlig unverständig und verrückt.

    Du hast keine Kontrolle, verlierst das Vertrauen in Dich selbst und erstarrst zu einem Ding unter Menschen.

  • Die Störung des Zeiterlebens zeigt sich durch die erzwungene Fokussierung auf den Augenblick der Angst, aus dem Du Dich nicht befreien kannst.

  • Soziale Angststörungen trennen Dich von Deinen Mitmenschen in existenzieller Weise.

    Du hast Schwierigkeiten mit anderen Menschen zu sprechen und ständig Angst, von anderen in irgendeiner Form als Mensch entwertet zu werden.

  • Die Angst vor Menschen schränkt Deine Handlungs- und Willensfreiheit stark ein.

  • Durch die veränderte Wahrnehmung und Denkweise gibt Dir die Angst einen engen Raum vor, in dem Du denken und handeln kannst.

  • Vgl auch Was tun bei Panikattacken? » Klopfen gegen Angst

  • 1) Lisa Hochuli: Leben wir in einer Angst-Gesellschaft?
    2) Johannes Eberhorn: Angst – Phobien
    3) Ceren Dogan: „Die Angst, das Gesicht zu verlieren“: Phänomenologische und psychoanalytische Zugänge zum Schamerleben und der sozialen Phobie
    4) Vorlesungsskript Thomas Fuchs: Phänomenologie und Psychopathologie (WS 2019/20, Universitätsklinikum Heidelberg)
    5) Frank Luerweg: Interozeption – Signale aus dem Körperinneren
    6) Thomas Fuchs: Anthropologische und phänomenologische Aspekte psychischer Erkrankungen
    7) Thomas Fuchs & Stefano Micalli: Phänomenologie der Angst (Metzler Handbuch)
    8) Thomas Fuchs: Subjektivität und Intersubjektivität. Zur Grundland psychiatrischer und psychotherpaeutischer Diagnostik
    9) Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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