Angst & Philosophie – Angst als Wesen des Menschen (Teil 1)
Angst ist ein Basisgefühl des Menschen. So mächtig und tiefgreifend, dass sich eine ganze Richtung der Philosophie mit ihm beschäftigt hat. Dabei fasst die Existenzphilosophie Angst anders auf als die Naturwissenschaften.
Angst in der Existenz-philosophie
Die Philosophie kann helfen, Angststörungen zu verstehen und Wege aufzeigen, Angst zu bewältigen.
Von der Sinnhaftigkeit der Angst
Die Angst hat etwas Dunkles und Bedrängendes an sich. Sie packt Dich an der Kehle und schnürt Dir den Atem ab. Sie betäubt Geist & Körper und versetzt Dich in verzweifelte Lähmung. Sie liegt wie ein Zentnersack auf Deinem Brustkorb und droht Dich zu zermalmen.
Dass Angst nützlich sein kann, klingt eingängig. Möglicherweise auch die Unterscheidung der Psychologie zwischen Angst als Zustand (state anxiety) und als Eigenschaft (trait anxiety).
Richtig ist auch, dass Angst zu körperlichen Reaktionen wie schnellerer Atmung, Schwitzen, erweiterten Pupillen uvm führt, während sie sich psychisch in Erschrecken und Hilflosigkeit zeigt. Siehe auch Angst erleben – die phänomenologische Struktur der Angst.
Angst kennen alle, aber niemand will sie haben
Angst kann lähmen, aber auch einen richtigen Energieschub freisetzen. Angst wird meist evolutionsbiologisch erklärt. Weil uns heute die Natur nicht mehr bedroht, haben sich unsere Ängste sublimiert und auf andere Objekte verlegt. Allerdings: in Industrienationen nehmen Ängste & Angstkrankheiten weiter zu.
Doch von den üblichen naturwissenschaftlichen Theorien einmal abgesehen: Was kann Angst für Dich als Mensch bedeuten?
Angst wird gesellschaftlich geprägt
Frei flottierend, chronisch, irrational – worauf sich Deine Angst nicht richtet oder richtet, ist jetzt mal dahingestellt. Tatsache ist, dass sie existenziell für Dich ist, sowohl bei gesunden Menschen als auch bei psychisch kranken Menschen mit Angststörung.
Ängste haben Ursachen, sie entstehen nicht aus dem Nichts
Da wir als Menschen Teil unserer Umwelt sind, entwickeln sich Ängste sogar zusammen mit den sozialen Strukturen und natürlichen Gegebenheiten, die unserem Dasein zugrunde liegen.
Ängste sind also abhängig von Deiner Lebensform, gesellschaftlichen Normen, politischen Rahmenbedingungen etc.
Fürchtest Du, als Frau schwanger zu werden, dann ist diese Furcht nicht allein aus Dir heraus entstanden, sondern hängt mit dem Verhalten des Umfelds zusammen, der wirtschaftlichen Lage, Beruf u. v. m. Fürchtest Du Dich, als Mann Deine Homosexualität zu zeigen, hängt auch das mit Deinem sozialen Milieu, Umwelt, Beziehungen, gesellschaftlichen Normen, Status, politischer Lebenswelt, Selbstverständnis u. v. m. zusammen.
Angst in der Philosophie
In der Antike galt die Angst als reine Körperreaktion, die auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist. Aristoteles zum Beispiel schreibt über die Furcht als „gewisse Art von Kummer und Beunruhigung aufgrund der Vorstellung eines bevorstehenden schmerzhaften Übels“ (Rhetorik)
Im Zeitalter der Aufklärung wurden Affekte, Leidenschaften und Irrationales als hinderlich für den Verstand angesehen. Angst galt als Schwäche sowie viele andere Emotionen auch. Eine explizite Auseinandersetzung mit dem Phänomen Angst in der Philosophie begann erst mit Kierkegaard und wurde von Heidegger, Sartre und Camus fortgesetzt.
Angst ist bei den Existenzphilosophen positiv gedacht
– ganz im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis. Die Angst wird von den Existenzphilosophen als logische Folge von Erkenntnis und Energie-Pusher zur Realisierung von Möglichkeiten verstanden.
Kierkegaards Philosophie über Angst
Erst mit dem dänischen Theologen & Philosophen Sören Kierkegaard tritt die Angst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er fasste Angst erstmals nicht als Schwäche auf, wie die Philosophen der Aufklärung und des Rationalismus. Für ihn galt Existenzangst als DAS Wesensmerkmal von Willensfreiheit und menschlichem Denken.
„Gleich wie der Arzt wohl sagen muss, es lebe vielleicht kein einziger Mensch, der ganz gesund sei, ebenso müsste man (...) sagen, es lebe da kein einziger Mensch, ohne dass er denn doch ein bisschen verzweifelt sei, ohne dass da doch tief im Innersten eine Unruhe wohne, ein Unfriede, eine Disharmonie, eine Angst vor einem unbekannten Etwas, eine Angst vor einer Daseinsmöglichkeit oder eine Angst vor sich selber.“
Angst entsteht durch die Selbstreflexivität des Menschen.
Der Mensch ist sich über sich selbst bewusst, er weiß um seine Freiheit, immer wieder auf Optionen und Möglichkeiten zu treffen.
Angstgefühle kommen Dir dabei auf, weil Du Dir im Bewusstsein Deiner Freiheit gleichzeitig der Zukunft bewusst bist. Weil Du die Folgen Deiner Wahl nicht absehen kannst, kann ja kein Mensch, fehlt Dir die Sicherheit.
Was aufgrund Deines Verhaltens oder Deiner Entscheidungen passiert, kannst Du nicht 100 % vorausplanen.
Existenzielle Angst als Angststörung & depressive Angst
„Wer ästhetisch lebt, der erwartet alles von außen. Daher die krankhafte Angst, mit der viele Menschen von dem Schrecklichen sprechen, dass man seinen Platz in der Welt nicht erlangt habe (...), eine solche Angst deutet stets darauf hin, dass ein Mensch alles vom Platz erwartet, nichts von sich.“
Was hat Kierkegaards Konzept mit Depressionen & Angststörungen zu tun?
Interessant ist seine Wortwahl. Er nutzt Metaphern für die Angst wie „Blick in den Abgrund“ oder „schwindelnde Tiefe des Nichts“, was ziemlich genau die Gefühlswelt von depressiven Menschen oder Menschen mit Angststörungen beschreibt.
Konfrontation mit der Angst
Kierkegaard rät außerdem zu einer Lösung, die in der Psychotherapie angewandt wird: die Konfrontationstherapie. Die Kraft der Angst soll genutzt werden, um die Freiheit zur Lebensgestaltung zu realisieren.
Übertragen auf pathologische Ängste: Betroffene spüren den rasenden Puls, die heftige Unruhe – eine Energie, die implodiert, anstatt explodiert. Diese Energie freizusetzen und zu kanalisieren ist ein wichtiger Faktor für Selbstwirksamkeit und Handlungsspielraum.
Noch etwas ist bedeutsam an seinen Ausführungen. Kierkegaard bezeichnet eine enge Verbindung zwischen der mentalen Fähigkeit, Möglichkeiten zu denken, frei daraus zu wählen und dann die Last der Verantwortung für diese Entscheidungen zu tragen, als Angst.
Ähnlich kenne ich das von der Depression: Die Angst davor, falsche Entscheidungen zu treffen, ist so groß, dass Du keine treffen kannst. Auch bei Angststörungen lähmt Dich die Angst in Denken & Handeln, weil Dein Verstand rasend versucht, alles zu berücksichtigen und darüber verzweifelt.
Heideggers Philosophie über Angst & Welt
Noch etwas konkreter und evtl. verständlicher wird es, wenn Du Heideggers und Sartres Weiterentwicklung von Kierkegaards Ansatz heranziehst. Als Existenzphilosoph sieht Heidegger in der Angst eine Grund-Befindlichkeit. In der Angst erkennt der Mensch seine Endlichkeit und Bedeutungslosigkeit. Angst ist daher das vorherrschende Grundgefühl des modernen Menschen.
Wohlgemerkt: der Grundzustand von jedem Menschen – nicht ein paar Handvoll Kranken.
»Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens« (Sein und Zeit, § 40)
Das Entgleiten der Welt & des Selbst
Laut Heidegger hast Du als Mensch Angst vor dem In-der-Welt-sein, denn hier wirst Du radikal auf Dein Selbst verwiesen und erkennst Deine Endlichkeit. Dein Sein offenbart sich im Menschen als Sein zum Tode – die äußerste Möglichkeit des Seins.
Das Vorausdenken in diese Möglichkeit sorgt dafür, dass sich der Mensch in seiner Ganzheit versteht. Angesichts der Möglichkeiten muss der Mensch also Sorge um sich tragen und bekommt Angst.
Dieser Zustand des Sorgens bzw. Um-sich-Sorgens wird Dir erst in der Angst bewusst – also genau in dem Moment, in dem Dir die Welt entrückt erscheint, unvertraut und unheimlich wird.
„Wir ‚schweben‘ in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir selbst – diese seienden Menschen – inmitten des Seienden uns mitentgleiten.“ (Heidegger)
Die Angst vor Nichts
Aber warum macht die Freiheit, die Fülle an Möglichkeiten dem Menschen Angst? Weil Chancen, Optionen und Alternativen in Handeln und Denken unbestimmt sind, unsicher und nicht vorhersehbar.
Heidegger sieht das Selbst als unbestimmt an, es muss sich immer wieder neu bestimmen. Die Angst als Grundbefindlichkeit des Menschen richtet sich nicht gegen ein bestimmtes Objekt, sie ist nicht zielgerichtet.
„Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts andrängt“ ...“Das Nichts enthüllt sich in der Angst – aber nicht als Seiendes. Es wird ebensowenig als Gegenstand gegeben.
Die Angst ist kein Erfassen des Nichts.“
Die Auflösung von Bedeutung & Sinn ist es, die wir angesichts des Nichts, des Unspezifischen spüren, aber nicht benennen können. Alles Unwesentliche wird unwichtig, und plötzlich werden wir uns unserer Haltlosigkeit und Ziellosigkeit bewusst – zu viele Möglichkeiten für Entscheidungen und Handlungen, die uns verwirren und verängstigen.
Sartres Philosophie über Angst & menschliche Existenz
Sartre formuliert das etwas anders: Angst ist für ihn das Bewusstsein Deiner eigenen Freiheit, Deiner Selbstverantwortung und Deines Auf-Dich-Allein-Gestellt-Seins. In seinem großen Werk „Das Sein und das Nichts“ (1944) verfolgt er ähnliche Gedanken wie Kierkegaard und Heidegger.
Der Mensch ist von Natur aus frei, Punkt. Freiheit treibt ihn zu Entscheidungen und Verantwortung. Das ist unumgänglich für jeden Einzelnen: Er hat keine Wahl, das sind die Bedingungen seiner Existenz. Da der Mensch aber die Dimensionen an Möglichkeiten nicht überblicken kann, bekommt er Angst.
„Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft nach dem Modus des Nicht-seins zu sein, ist genau das, was wir Angst nennen.“ (Sartre)
Der Mensch ist existenzielle Angst
Die Frage lautet für Sartre daher, wie mit der Angst umgehen? Eine Reaktionsweise sind Selbstbetrug und Unehrlichkeit, die den Anschein erwecken, als wäre alles unter Kontrolle. Angst lässt sich allerdings nicht verdrängen, „denn wir sind Angst“.
Was soll das bedeuten? Angst ist ein Grundzustand des Menschen, der aufkommt, weil keine Religionen und sozialen Normen uns mehr sagen, was sinnvoll und erstrebenswert ist.
Der Mensch ist auf sich allein gestellt, gewinnt dadurch aber auch Freiheit – zu wählen, zu entscheiden, sein Leben nach seinem Willen zu gestalten.
Der Mensch als Nichts im Sein
Dadurch, dass der Mensch nach Sartre nicht das ist, was er ist, entsteht ein Nichts im Sein, das er auch „Nicht-Sein“ nennt. Der Mensch ist der Ursprung des Nichts. Weiter geht Sartre davon aus, dass man sein Leben erst aus der Existenz schaffen muss. Es ist nicht von Anfang an da.
Der Mensch ist ein Nichts, das sich sein Sein erst schaffen muss.
Doch auch bei Sartre beängstigt die Menschen, die enorme Auswahl an Alternativen und Optionen. Angst ist daher eine Grundkonstitution des modernen Menschen, der diese Angst immer wieder überwinden muss und seine Zukunft schaffen.
Das Nicht-Festgelegtsein, Nicht-Determinisiertsein, die Ungewissheit der eigenen Existenz, die Unmöglichkeit, sich an Autoritäten oder der Natur anzuklammern, vermittelt das Gefühl der Verlassenheit = Angst
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Fazit: Angst mit Philosophie verstehen
Ob Kierkegaard, Heidegger, Sartre oder Camus – alle Existenzphilosophen deuten die Angst positiv & essenziell.
Die Angst ist ein Zeichen, dass der Mensch seinem Wesen nach frei ist, sein Schicksal selbst zu gestalten.
Die Besonderheit der Angst liegt im Sensibilisieren. Sie sensibilisiert den Menschen dafür, dass sein Leben offen und formbar ist. Dass er selbst sein Selbst gestalten kann.
Angst eröffnet dem Menschen einen Blick auf sich als Ganzes. Und sie kann die Kraft verleihen, eine der Möglichkeiten, die sich in diesem Blick eröffnen, in Angriff zu nehmen.
Gleichzeitig hat die Angst etwas zutiefst Sorgenvolles an sich: Sie ermahnt uns, auf unsere Entscheidungen zu achten, da wir nicht nur für uns selbst verantwortlich sind, sondern auch für die eigenen Lebensbedingungen.
Angststörungen zeigen sich nach der phänomenologischen Philosophie NICHT als Zustand im Kopf, sondern als eine veränderte Weise, in der Welt zu sein.
Quellen:
1) Kai Althoetmar: Angst (Planet Wissen Redaktion)
2) Anna-Cathrin Esser: Der Angstbegriff bei Kierkegaard, Heidegger und Sartre
3) Sören Kierkegaard: Der Begriff der Angst
4) Klemens Dieckhöfer: Angst des Irdischen. Zum Thema „Angst“ in der Philosophie
5) Simone Miller: Verunsicherung in Krisenzeiten. Was Ängste mit uns machen
6) Christian Möller: Der Mensch braucht Angst, sonst lernt er nichts
7) Angelika Brauer: Die Angst und das Nichts
8) Metzler Lexikon für Philosophie: Angst (spektrum.de)
9) Gilbert Dietrich: Die Angst in der Philosophie als Schlüssel zum Dasein. Heidegger und das Leben als Angst-Verhinderungsmaschine
10) Elisabeth von Thadden: Wie herrscht Angst?
11) Bärbel Frischmann: Das Virus und die Angst
12) Martin Heidegger: Sein und Zeit
13) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie
14) Lukas Krönert: Angst und Frucht bei Jean-Paul Sartre (intrapsychisch.de)
15) Alfred Dandyk: Angst – ein Grundbegriff der Existenzphilosophie
16) W. Buckingham et al: Das Philosophie-Buch. Große Ideen und ihre Denker
17) Rebekka Reinhard und Thomas Vašek: Serie „Die Weisheit der Gefühle“ – Teil 1: Angstlust