Theodizee-Frage: Vom Warum zum Wozu – Ein Antwort-Versuch
Wie kommen wir weg vom grüblerischen Kreisen um die Theodizee-Frage, die für Christen wichtig ist? Ich möchte hier eine Transformation von den Ursachen und Gründen (Warum?) hin zu den Zwecken (Wozu?) vorschlagen.
Jesus & die Theodizee
Jeder Antwort-Versuch auf die Frage nach dem Leid aus dezidiert christlicher Sicht blickt auf das Kreuz. Im Opfertod Christi verdichtet sich das Leid der Welt, der Schmerz, das ungerecht erfahrene Übel, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein, die Verlassenheit zu einem markerschütternden Schrei, den Jesus stellvertretend für die Menschheit artikuliert:
„Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen?“
Jesus, der für unser Heil das Leid der Welt auf sich nimmt, wird so zur „personifizierten Theodizee“. Im gekreuzigten Jesus kommen Leid und Heil zusammen, denn in der Kreuzigung begegnen uns zugleich gegenwärtig erfahrenes Leid und die Erwartung künftigen Heils.
Leid und Heil müssen zusammen gedacht werden, nur so wird die Sprachnot angesichts des Kreuzes – und damit des Übels schlechthin – überwunden; in Christus bekommt die Theodizee-Frage eine soteriologische Antwort, und nur darin kann das volle Verständnis göttlicher Gerechtigkeit liegen. Zumindest aus christlicher Sicht.
Gleichzeitig erfährt aber auch Jesus die Gottferne, die Gottverlassenheit des modernen Menschen.
„Warum hast Du mich verlassen?“, das fragen wir ja auch, etwa in der Depression. Jesus hat den Moment der Verlassenheit so intensiv erlebt, wie auch wir ihn angesichts des Übels erleben. Dies kann mir als Christen Trost geben, der ich am Bösen in der Welt – an Krieg und Terror – zu verzweifeln drohe, am Übel der Naturkatastrophen, die sich – mit oder ohne Klimawandel – vermehrt ereignen und manchmal auch einfach nur an mir selbst.
Trost durch einen Perspektivenwechsel:
Weg von mir, hin zu Gott, aber auch weg von der Suche nach Gründen, hin zum Handeln. Dafür müssen wir uns den Schrei der Gottverlassenheit genauer anschauen.
Begriffsgeschichte
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Im Aramäischen lautet diese Frage elāhī, elāhī, lemā schebaḳtáni. In deutscher Umschrift, die auf der griechischen Umschrift des Evangelisten Markus basiert, wird daraus elōi, elōi, lema sabachthani.
Im Hebräischen „Original“ lautet die Stelle eli, eli, lāmā azavtāni – ganz ähnlich also, vor allem hinsichtlich des Wortes, um das es mir im Folgenden geht: lemā oder lāmā.
Das Wort lāmā wird von Luther mit „warum“ übersetzt. Das ist auch richtig so – lāmā heißt „warum“ oder „weshalb“.
Wenn man sich jedoch das hebräische Fragewort einmal genauer anschaut, zerfällt es in zwei Bestandteile:
das Wort mā, das „was“ bedeutet, und die Vorsilbe le (Lamed mit Schwa mobile; sprich etwa: „lö“) – hier mit Qāmäs vokalisiert (langes „a“, in der Umschrift: ā).
Das Wörtchen le oder lā ist eine Präposition, die mit „für“, „zu“, „hinsichtlich“, „in Bezug auf“ übersetzt werden kann.
Wortwörtlich bedeutet lāmā also so viel wie „für was“ oder „zu was“. Man könnte lāmā also auch mit „wofür“ oder „wozu“ übersetzen.
Damit bekommt die Frage, die in Jesu Schrei am Kreuz enthalten ist, eine teleologische Note. Es geht damit nicht mehr um den Grund, sondern um den Zweck, um das Ziel des Kreuzestods, um die Absicht, die Gott damit verbindet. Was hast Du, Gott, mit mir vor? Zu was soll das alles gut sein? Wohin soll das führen? An die Stelle des übermächtigen, erschlagenden Warum tritt das bescheidenere, richtungsweisende Wozu.
Transformation: Vom Warum zum Wozu
Freilich geht es in der Dramatik des Kreuzes um alles, es geht gewissermaßen in die tiefsten Tiefen und auf die höchsten Höhen. Das verlangt auch einen sprachlichen Ausdruck von großem Gewicht.
Die Bedeutungsschwere von letzten Ursachen und fundamentalen Gründen passt besser als die relative Leichtigkeit des programmatischen Absichtsvollen, des Intentionalen, in dem noch Reste von Tatkraft zu erkennen sind.
Wer Warum fragt, will der Sache auf den Anfangsgrund, ohne Handlungswillen, wer Wozu fragt, hat diesen Grund bereits verlassen und will aufbrechen zu neuen Ufern.
Genau das ist wiederum die Stärke des Wozu für den depressiven Christen, der heute das Kreuz betrachtet, im Glauben an die Auferstehung. Denn Christen glauben ja an das neue Ufer, das neue Leben, das Licht des Ostermorgens.
Fazit: Theodiezee-Frage – Vom Warum zum Wozu
Im Übergang vom Warum zum Wozu tritt jene Perspektivänderung auf, die in der Tradition des Theodizee-Topos von Leibniz und Wolff bis Jonas und Sölle erkennbar ist – sei es in Ermangelung an überzeugenden Lösungen für das Ursprungsproblem des Bösen und des Leids, sei es aus der fortschrittsoptimistischen Perfektibilitätsidee oder der judeo-christlichen Haltung einer Mitschöpferschaft und damit Mitverantwortung des Menschen heraus.
Damit verbunden ist eine Neuorientierung hinsichtlich des erfahrenen Übels: Nachdenken über die Zukunft statt Grübeln über die Vergangenheit.
Der Blick ist nach vorne gerichtet – sorgenvoll, aber nicht hoffnungslos. Vielleicht kann das – auch in der Depression – helfen und zum Handeln befähigen.