Kinderarmut hinterlässt Narben in der Psyche

Finanzielle Sorgen drücken nicht nur kurzfristig aufs Gemüt – sie können uns ein Leben lang begleiten. Dazu gibt es seit Jahrzehnten Studien, die belegen, wie verheerend sich relative Armut auswirkt. Eine aktuelle Untersuchung von Finkel et al. (2025) zeigt wieder einmal, dass Geldnot in der Kindheit sich tief in die Psyche eines Menschen eingräbt und die emotionale Gesundheit über das gesamte Leben belastet.

Kinderarmut hinterlässt Narben in der Psyche

Die Spuren der Armut – von der Kindheit bis ins Alter

Was früher nur Vermutung war, belegen heute wissenschaftliche Studien mit beeindruckender Klarheit. Dieses Mal hat ein schwedisches Forscherteam um Finkel (eine renommierte Forscherin auf dem Gebiet der Verhaltensgenetik und Alternsforschung) ganz genau hingeschaut:

Daten von 1.600 erwachsenen Teilnehmern des schwedischen Zwillingsregisters wurden analysiert. Es handelt sich um eine Langzeitstudie, die gesundheitliche und psychologische Ergebnisse über einen außergewöhnlich großen Zeitraum verfolgte.

Dabei stand vor allem die Frage im Mittelpunkt: Wie hängen finanzielle Belastungen in der Kindheit und im Erwachsenenalter mit Depressionen, Angst und Einsamkeit im späteren Leben zusammen?

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Geldstress wirkt ein Leben lang nach

Wer als Kind oder als Erwachsener oder sogar in beiden Lebensabschnitten mit finanziellen Nöten zu kämpfen hatte, berichtete im hohen Erwachsenenalter häufiger von psychischen Problemen. Vgl. Was Armut mit Kindern macht

Besonders kritisch: Wenn sich der Geldstress über Jahre aufstaut, hinterlässt er umso deutlichere Spuren.

Selbst wenn sich die finanzielle Situation der Menschen später im Leben verbessert, können die emotionalen Spuren früherer Notlagen viel länger anhalten, als wir erwarten
— Finkel
 

Die biologische Verbindung zwischen Konto & Stress

Aber wie genau wird aus Geldnot eigentlich Stress bzw. körperliches Leid? Das Stichwort lautet: chronischer Stress. Anhaltende finanzielle Sorgen versetzen Körper und Psyche in einen permanenten Alarmzustand. Neurologisch sorgt das für eine dauerhaft erhöhte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Kurzfristig hilfreich, aber auf Dauer toxisch. Wenn der Körper immer wieder unter Hochspannung steht – weil ständig die Angst vor der nächsten Rechnung oder das Gefühl der Demütigung herrscht –, führt das zu einer Überlastung der regulierenden Systeme.

Ein chronisch erhöhter Cortisolspiegel schwächt das Immunsystem, fördert Entzündungsprozesse im Körper und erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und und und. 

Armut, Stress und alostatische Last

Nach der Theorie der alostatischen Last führt dies zu „Abnutzungserscheinungen“ im Organismus, was sich wiederum in den von Finkel beobachteten psychischen Problemen manifestiert – und erklärt auf biologischer Ebene, warum der Stress der Vergangenheit auch dann noch nachwirkt, wenn die akute Notlage längst überwunden ist. Die emotionale Belastung schreibt sich in den Körper ein.

Vgl. Armut und Depression – gesundheitliche Ungleichheit

 

Soziokulturelle Armut – mehr als ein Gefühl 

Was permanente Geldsorgen mit der Psyche machen, ist schwerwiegend. Die Langzeitstudie aus Schweden hat nicht nur auf Einkommen oder Job geschaut, sondern auch auf die subjektive Belastung. Konkret wurden die Teilnehmenden also nicht nur nach ihrem Einkommen gefragt, sondern auch, ob sie in den letzten Monaten Schwierigkeiten hatten, ihre laufenden Rechnungen für Miete und Lebensmittel zu bezahlen. Oder ob ein kaputtes Haushaltsgerät (wie eine Waschmaschine) eine finanzielle Katastrophe auslöst. 

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Warum das wichtig ist? Weil die gefühlte Armut oft ungesehenen Teilaspekt der Armut abbildet: Das Wort “gefühlt” meint hier nicht, Betroffene bilden sich ein, arm zu sein, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind. Vielmehr geht es um den psychischen Zustand, der durch die materielle Deprivation verursacht wird und Folgeprobleme auslöst (Selbstwertprobleme, sozialer Rückzug, psychische Erkrankungen). Manche Experten sprechen lieber von soziokultureller Armut.

Vgl. Was ist Armut? Philosophie: Und warum ist sie ein Problem?

 

Es ist der spürbare Mangel an Puffer und Sicherheit, der die Psyche zusätzlich belastet

Relevant war daher, ob die Betroffenen das Gefühl hatten, genug für ihre Grundbedürfnisse wie Wohnen, Essen und ein kleines Notpolster zu haben. Und genau dieses Gefühl hing signifikant mit der psychischen Gesundheit im späteren Leben zusammen.

Vgl. Immer mehr psychisch Kranke – eine Mental Health Krise?

 

Langzeitfolgen von Kinderarmut

Besonders betroffen waren Menschen, die sowohl in der Kindheit als auch als Erwachsene finanzielle Probleme hatten – sie mussten mit den größten emotionalen Belastungen kämpfen. 

Vgl. Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft – Das ist Klassismus

Interessanterweise fanden sich in der Studie minimale Geschlechterunterschiede: Während bei Männern der empfundene Statusverlust stärker mit depressiven Symptomen korrelierte, war es bei Frauen eher die Sorge um die Sicherheit und das soziale Netz, die zu Angstzuständen führte. Finkel erklärt:

Menschen, die in ihrer Kindheit finanzielle Not erlebten, zeigten fast zwei Jahrzehnte früher Symptome von Angst und Einsamkeit als diejenigen, die mit mehr finanzieller Sicherheit aufwuchsen – oft schon in ihren 50ern statt in ihren 70ern.
 

Verbesserung ist möglich – doch das Risiko bleibt

Trotz all der ernsten Fakten gibt’s auch ein ermutigendes Ergebnis: Die Teilnehmer, die sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenenalter finanziell belastet waren, hatten zwar die höchsten Werte für psychische Probleme im späteren Alter. Aber die, die ihre finanzielle Situation im Laufe der Zeit verbessern konnten, zeigten ein etwas geringeres Risiko. Vgl. 7 Säulen der Resilienz: Kritik

Das war eines der ermutigenden Muster, die wir gesehen haben (...) Es deutet darauf hin, dass eine frühe Notlage zwar von Bedeutung ist, aber nicht das Schicksal besiegelt. Eine Verbesserung der finanziellen Situation kann auch im späteren Leben noch einen bedeutenden Unterschied für die emotionale Gesundheit ausmachen.
— Finkel

Wichtig ist hierbei jedoch die realistische Einordnung: Eine spätere finanzielle Besserstellung ist ein Faktor, der die negativen Folgen mildert/abfedert, aber die in der Kindheit entstandenen „Narben“ nicht einfach auslöscht. 

Vgl. Ursachen von Armut – Wie entsteht Armut? Warum gibt es Armut?

 

Fazit: Kinderarmut hinterlässt Narben

Finanzielle Nöte in der Kindheit können Menschen nicht nur belasten, sie tun es auch bis ins hohe Alter. Je länger der Stress andauert, desto tiefer graben sich die Spuren in Körper und Psyche ein. Dabei geht es nicht nur um die Zahlen auf dem Konto, sondern um das Gefühl existenzieller Sicherheit. 

Armut ist kein individuelles Versagen. Sie ist ein strukturelles Problem mit dramatischen Folgen für das Leben und die Gesundheit der Betroffenen. Vgl. Kinderarmut & Scham

Die Politik könnte viel dagegen tun, wenn sie nur wollte. Armutsfeste Kindergrundsicherung, Ausbau von Bildungschancen, fairer Zugang zum Gesundheitssystem – das alles sind keine reinen Sozialausgaben, sondern eine entscheidende Investition in die langfristige Gesundheit unserer Gesellschaft.

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Quellen:

1) Aging & Mental Health (2025). DOI: 10.1080/13607863.2025.2464709
2) DJI: Wie von Armut betroffene Kinder und Jugendliche ihre Situation wahrnehmen (Meldung 27.03.2024)
3) Christian Hilscher: Finanzielle Belastung wirkt sich auf emotionale Gesundheit aus (psylex 23.05.2025)
4) Weissman, D.G., Hatzenbuehler, M.L., Cikara, M. et al. State-level macro-economic factors moderate the association of low income with brain structure and mental health in U.S. children. Nat Commun 14, 2085 (2023). https://doi.org/10.1038/s41467-023-37778-1 
5) PM: Financial Vulnerability Affects Emotional Health Throughout Life (USC Schaeffer Institute)

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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